Etwas über drei Monate war es her, als das junge Paar Gerhard kennenlernte. Den Mann aus Westberlin, der ihnen von einem ebenfalls in diesem Teil der Stadt lebenden Freund als Schleuser empfohlen wurde und der die vierundzwanzig jährige Jana und den ein Jahr älteren Sven in einer Nacht und Nebel Aktion über die Grenze der DDR, die schon längst nicht mehr ihre Heimat war bringen sollte.
Drei Monate, in der sie Gerd immer wieder heimlich aufsuchte oder sich mit ihnen in den Gärten und Parks der Stadt traf, um seine wertvolle Fracht, wie der Mann Jana und Sven scherzend nannte ausreichend auf den Moment ihrer Flucht vorbereiten.
Ja. Gerhard war, daran gab es inzwischen auch für Jana und Sven keinen Zweifel mehr, der richtige Mann für ihr gefährliches Vorhaben. Denn er war nicht nur sehr gewissenhaft in dem was er tat, sondern gab sich auch alle Mühe, das junge Paar auf das Neue und wie er den beiden immer wieder versicherte, schon bald erreichte Leben vorzubereiten.
Dazu gehörte unteranderem das lange und intensive Training, das Jana und Sven über sich ergehen lassen mussten. Wenn sie Gerhard, was häufig vorkam, in seinen alten und speziell dafür umgebauten Ford Transit Transporter lud, um mit ihnen in der bewaldeten Umgebung von Oranienburg die bevorstehende Flucht zu üben oder wenn sie fast eine Stunde lang in einer engen und von aussen verschlossenen Kiste ausharren mussten, in der man kaum Luft bekam. Doch wie bereits erwähnt, war das nicht das Einzige, womit sich dieser Mann auszeichnete. Es war auch der Unterricht, ja, so in etwa konnte man es nennen, den Gerhard für seinen neuen Schützlingen abhielt. Wertvolle Lehrstunden, zu denen er nicht nur stets ein paar aktuelle Tageszeitungen und bunte Illustrierte aus dem Westen mitbrachte, sondern in denen er Jana und Sven die nicht immer nur schillernde Welt erklärte, die hinter der Mauer auf sie wartete.
Hätten die beiden es besser treffen können, als diesen Mann, der es offensichtlich gut mit ihnen meinte an ihrer Seite zu haben? Eine Frage, die, zumindest damals, sowohl Jana, als auch Sven mit einem lauten „Ja“ beantwortete hätten. Aber eben nur damals. Als sie noch nicht ahnten, wem sie da blindlings vertrauten. Als sie noch nicht wussten, dass die als Scherz geglaubte Bezeichnung „wertvolle Fracht“ kein wirklicher Scherz, sondern ihre wahre Bestimmung war.
Eine Ahnungslosigkeit, die selbst dann noch anhielt, als sie, im sehr gut getarnten und von außen nicht erkennbaren doppelten Boden des Fluchtfahrzeuges liegend, das krachende Geräusch hörten, das ein schwerer Hammer verursacht, der auf eine dicke Holzplatte trifft und das knarrende und splitternde Geräusch, das ein Stemmeisen macht, wenn man es, um zum Beispiel eine Kiste zu öffnen, in deren Holz schlägt. Als man sie, von unzähligen Taschenlampen fast geblendet und in die stählernen Läufe vieler Gewehre blickend, aus ihrem Versteck riss und brutal und unter lautem Geschrei und wilden Beschimpfungen auf den Asphalt des von Scheinwerfern hell erleuchteten und von unzähligen, ihre russischen Sturmgewehre im Anschlag haltenden Soldaten bewachten Grenzüberganges warf.
Ja, selbst, als sie bemerkten, dass man nur sie, nicht aber ihren Helfer Gerhard, von dem weit und breit nichts zu sehen war, verhaftet und auf den Boden geworfen hatte, als ihnen klar wurde, dass nur sie von Militärstiefeln und entsicherten AK47 umringt waren, deren todbringende Läufe ununterbrochen auf ihre Köpfe zielten, selbst da ahnten weder Jana, noch Sven, dass sie dieser Mann, dieser vermeintlich gute Freund an die Stasi verraten hatte.
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Zehn Jahre sollten noch vergehen, bis Jana und Sven, von der langen und furchtbaren Zeit der Gefangenschaft und der psychischen Drangsalierung durch das Ministerium für Staatssicherheit noch immer gezeichnet, aus ihren Stasi Akten erfahren sollten, warum man Gerhard damals nicht verhaftet hatte. Dass sie dieser gute Freund, ein Mann, der sich damals mit allerlei Spielchen ihr Vertrauen erschlich, nur ein einziges Ziel verfolgte.
Ein perfider Plan, der einzig und allein darin bestand, sie an dessen Ende für ein paar schäbige hundert D-Mark an die Stasi zu verkaufen.
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Jana und Sven sind noch heute ein Paar. Und sie leben noch immer in ihrer Heimatstadt Berlin. Dort, wo man ihnen so viel Böses antat. Und wo ihre tiefen Wunden von damals, jedoch ohne jemals zu vergessen, langsam aber doch stetig verheilen werden.
Und was wurde aus Gerhard, dem geldgierigen Verräter? Von ihm fehlt bis zum heutigen Tage jede Spur.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie wurde mir von Jana und Sven erzählt.
Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.
Zwei noch recht harmlose Bilder, die die Verhaftung zweier Grenzflüchtlinge zeigen.