Die Wende, die geschah, als sich die Wende anbahnte

Ziemlich genau ein Vierteljahrhundert ist es jetzt her, dass ein kleines Stück der so genannten geistig-moralischen Wende in unser Leben trat: Der lange Donnerstag. Er war der Anlauf zu mehr Lockerung der Ladenöffnungszeiten. In einem Radio-Feature wurde er letzte Woche als Clou und feine Errungenschaft stilisiert. Damals galt er aber auch als etwas ganz anderes.
Die Wende, die geschah, als sich die Wende anbahnteIm Vorfeld dieses ersten Donnerstag mit längerer Ladenöffnungszeit gab es massive Proteste im Einzelhandel. Sie gingen aber mehr und minder unter, denn fast zeitgleich dramatisierte sich die Lage in Ostdeutschland. Und die Ostdeutschen weiterten das Drama nach Ungarn und in die Tschechoslowakei aus. Die Wendezeit war schon am rotieren. Protestierende Verkäuferinnen wirkten da fast ein bisschen spießig mit ihren »Luxussorgen«. Sie waren aber kein Luxus, sondern völlig berechtigt. Die Männer und Frauen im Einzelhandel fürchteten sich vor einer Überflexibilisierung ihrer Lebenswirklichkeit. Der lange Donnerstag konnte doch nur das Fanal zur Deregulierung sein, der Startschuss zu ungeregelten Arbeitszeiten, glaubten sie. Wie sollte sich Familie und Beruf denn aufeinander abstimmen, wenn vielleicht bald täglich die Läden bis kurz vor die »Tagesschau« oder gar länger geöffnet blieben?

Die Gewerkschaften glaubten das auch. Sie sahen die arbeitsrechtlichen Errungenschaften auf dem Spiel stehen. Das Leben von Menschen, die im Einzelhandel ihr Geld verdienten, würde dramatisch an Druck gewinnen. Sie müssten zeitflexibel und belastbarer sein. Eine Beschleunigung ihres gesamten Daseins stehe ins Haus. Nicht nur auf der Arbeit, sondern eben auch im Privaten. Der lange Donnerstag war nur ein temporärer Testballon. Wenn die Kundschaft strömen würde, ginge es sicherlich weiter. Immer weiter, bis alle Grenzen verwischen oder sogar ganz fallen.
Die »Liberalen« hatten seinerzeit diesen Vorstoß gewagt. Er gelang ihnen. Noch zögerlich, aber immerhin. Jeden Donnerstag konnten die Läden zwei Stunden länger geöffnet bleiben. Dafür fielen sechs lange Samstage im Jahr weg, die gesetzlich gestattet waren. Der Vorstoß war Teil jenes Programms, das in der geistig-moralischen Wende immer stärker zum Tragen kam: Der Neoliberalismus fasste langsam Tritt. Er wollte deregulierte Lebensbereiche und Märkte, weniger vom Staat vorgegebene Richtwerte. Nur so, das versprach er, könnte eine Mehrung von Wachstum und Wohlstand eintreten.
Die Öffnungszeiten purzelten dann wirklich nach und nach. Wie vorhergesehen. Mittlerweile gibt es Bundesländer, in denen es faktisch keine Vorgaben mehr gibt. Aber verbessert hat sich wenig. Die Versprechen wurden jedenfalls kaum erfüllt. Sicher, die Kunden können jetzt theoretisch rund um die Uhr einkaufen fahren. Wenn sie genug Geld haben. Oder nicht selbst rund allzeit für ihren Arbeitgeber verfügbar sein sollen. Selbst nachts kann man teilweise einkaufen, wenn man möchte.
Die Arbeitsverhältnisse im Einzelhandel sind aber zu einer Katastrophe verkommen. Man arbeitet stark auf geringfügiger Basis und ist deshalb nicht sozialversichert. Subunternehmen, die auf Niedriglohnniveau Regale einräumen, »entlasten« den Einzelhandel. Die Flexibilisierung aller Lebensbereiche hat auch das möglich gemacht. Denn wenn die Kunden kein beschränktes  Zeitfenster für den Einkauf mehr haben, verstärkt das den Wettbewerbsdruck ungemein. Die Discounter profitierten sicherlich auch davon. Und mit ihnen ihre dubiosen Arbeitsbedingungen. Vorher ging man dorthin, wo man alles bekam, was man brauchte. Jetzt hat man Zeit für die Billigheimer und fährt nach dem Abendessen noch schnell zu Rewe, um das zu holen, was es bei Aldi nicht gab. Wir haben ja Zeit, nicht wahr? Der Jauch beginnt ja erst um Viertel nach Acht. Nur die Belegschaft im Einzelhandel hat keine Zeit, kommt erst weit nach der eigentlichen Öffnungszeit heim.
Die Rechnung für diese Lockerung, die vor 25 Jahren begann, bezahlten die Belegschaften. Und sie bezahlen sie noch heute. Rückblickend scheinen wir uns die damalige Entwicklung nur noch als Errungenschaft, als notwendige Öffnung und große Stunde eines hedonistischen Lebensgefühls denken zu können. Eine andere Sichtweise fällt heute, in Zeiten des Allzeit-Konsums, völlig aus dem Rahmen. Die damalige Lebensrealität, in der jeder trotzdem seine Einkäufe erledigt hatte, wird als tiefes und reguliertes Mittelalter dargestellt. Jetzt seien wir aber in der Neuzeit. Kommt, lasst uns alle shoppen gehen! Ach, du herrliche Einkaufszeit! Wer wird denn also so kritisch sein wollen? Es war doch toll, was damals geschah. Wir haben doch alle davon profitiert, oder nicht?
Eine Re-Regulierung von »von 6:00 bis 23:00 geöffnet«-Schildern ist wohl nur schwer noch denkbar. Was man einem Kind mal erlaubt oder gegeben hat, kann man nur noch unter Geschrei wegnehmen. Und was ist der Konsument anderes als ein Wesen, dessen infantile Triebe man durch Werbung anstachelt? Aber wenigstens ein Ladenschlussgesetz in jedem Bundesland sollte her. Eines, das reguliert, wann spätestens Feierabend sein muss. Am Nachmittag kann heute kein Laden mehr schließen. Aber bis 22:00 Uhr muss der Betrieb ja auch nicht gerade gehen. Es gibt doch auch ein Leben nach dem Einkauf. Ein Leben außerhalb der Shopping Mall. Damals, als dieses Stückchen geistig-moralische Wende umgesetzt wurde, wussten das noch viele und sie protestierten deshalb. Aber nur wenige sahen hin. Sie lugten gespannt auf die andere Wende, die sich drüben im Osten anbahnte. Das Leben hat seither viele Wendungen genommen.
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