Chris vor der Schur
In Australien wird ein Schaf geschoren, und alle deutschen Medien berichten davon. Wenn man aktuell “Schaf” googelt, gibt es auf der ersten Google-Trefferseite lediglich zwei Ergebnisse, die sich nicht auf dieses Ereignis beziehen. Die Welt steht Kopf – ob eines Schafs.
Warum bloß?
Klar: 40 kg Wolle sind eine ganze Menge. Ein neuer Weltrekord gar. Aber erklärt das allein die riesige Popularität von “Chris”?
Ich glaube, dass die Begeisterung für dieses Schaf tiefere Gründe hat – dass die Rekordschur an Sehnsüchte rührt, die sonst nur in der Kunst und in der Religion verhandelt werden.
Zunächst, natürlich, ganz banal: Der Fall ist harmlos, und er geht gut aus. Chris wird rechtzeitig gerettet. Er muss an seiner Last nicht zugrundegehen. Und selbst wenn: es ist ja nur ein Schaf. In Zeiten, in denen Fotos von toten Flüchtlingskindern durch die Medien gehen, ist jeder froh – und sei’s auch nur für fünf Minuten – eine Tiergeschichte lesen zu können.
Zweitens aber: So ein Fell ist ja eigentlich toll. Es wird zwar in seiner 40 kg schweren Fülle zur Bedrohung für das Tier – aber an sich ist diese Wolle großartig. Sie wächst und wächst und wächst – von alleine. Merinoschafe sind extra so gezüchtet, möglichst viel Wolle zu produzieren. Die Natur zeigt sich großherzig und fruchtbar. Es ist wie ein Apfelbaum voller reifer Früchte. Man muss nur pflücken. Ein paradiesischer, scharaffenlandartiger Zustand. Niemand kümmert sich um das verwilderte Schaf, kein Mensch sorgt und bangt, und die Wolle wächst trotzdem. Dreißig Pullover könnte man aus Chris’ Wolle stricken – jeder Zeitungsartikel erwähnt das. Chris ist ein Bild des Überflusses, ein Bild der Überfülle in einer Welt des Mangels, des Hungers und des Neids.
Drittens schließlich, und am wichtigsten: Wenn die Wolle für das Schaf zur Bedrohung wird, dann ist das eine ganz andersartige Bedrohung, als wir sie sonst tagtäglich in den Nachrichten sehen. Es ist keine destruktive, sondern eine konstruktive Bedrohung. Hier wird nichts kaputtgemacht, es werden keine Menschen enthauptet, keine Tempel gesprengt, keine Flüchtlingsheime angezündet – sondern das Wachstum, die Fruchtbarkeit selbst wird, da sie nicht genutzt wird, unversehns zur Gefahr. Das Gute ist im Übermaß vorhanden, doch die Menschen ignorieren es – und das wird zum Problem. Wir müssen es nur pflücken, und alles wird wieder gut. Für uns – denn wir haben die Wolle. Für das Schaf – denn es überlebt.
Konstruktive Zerstörung, Zerstörung durch konsequente Fortsetzung eines an sich guten Prinzips ist ein Motiv, das sich gelegentlich auch in der Kunst findet. Der Film “Das große Fressen” ist vielleicht das bekannteste Beispiel. Auch Jean Tinguelys selbstzerstörende Maschine “Homage to New York” gehört in diesen Kontext. Die Konnotationen sind hier freilich anders: in beiden Fällen agiert nicht die Natur, sondern Menschen bzw. leblose Objekte. Die Botschaft verschiebt sich dementsprechend ins gesellschaftskritische bzw. fatalistische. Dazu passt, dass die Zerstörung – anders als in Australien – tatsächlich stattfindet. Anders als Chris überleben weder die Protagonisten der filmischen Fressorgie noch die Maschine Tinguelys.
Die Geschichte des Schafs ist dagegen ist eine mildere und positivere. Milder, weil der Protagonist ein Tier, oder die Natur ist, und kein Mensch (dem man alles zutrauen kann) und keine Maschine (der man ebenfalls alles zutraut). Positiver, weil sie sich in Wohlgefallen auflöst. Sie ist nicht kitschig, denn Chris trägt durchaus einige Wunden davon. Sein Anblick nach der Schur ist nicht “schön”. Während der Prozedur muss er sogar betäubt werden, damit er nicht am Schock stirbt. Doch trotz allem: sie endet gut. Und nach einem guten Ende sehnen wir uns ebenfalls. Wir sehnen uns danach, dass diese große, wundersame, immer im Wachsen, Blühen, Vergehen und Neuerstehen begriffene Welt, die uns das Leben ermöglicht, aber auch unversehns ganze Völker mit einem Federstrich vernichten kann, gut ausgeht. In Australien ist ein Anfang gemacht. Und wir verstehen, dass die Geschichte vom Schaf Chris eigentlich eine Geschichte der Rettung der Welt ist.
Chris nach der Schur