Wochenlang sind sie unterwegs, treffen Menschen, die begeistert sind von Gribouille, gehen aber auch oft durch einsame Gegenden, in denen höchstens ein paar wilde Hunde oder Pferde unterwegs sind. Vor allem in unwegsamem Gelände kommt es auf gegenseitiges Vertrauen und Verständnis, denn: Esel sind nicht stur. Sie sondieren nur sehr genau, ob und wohin sie den nächsten Schritt setzen. Und wann sie bereit dafür sind.
Die sprichwörtliche Eselsgeduld wird für so manchen Zeitgenossen zur echten Herausforderung. Ein Grund, warum Eseltrekking derzeit vor allem in Managerkreisen äußerst beliebt ist. Mit einem Esel zu wandern ist ein echtes Abenteuer! Und auch für Andy Merrifield wird die Tour zu einer Reise zu sich selbst…
Rückblenden in sein früheres, hektisches Leben in der Großstadt wechseln mit wunderschönen Landschaftsbeschreibungen. Schmerzhafte Einsichten in menschliche und tierische Nöte werden lebendig – in vielen Ländern werden Esel seit Jahrhunderten qualvoll behandelt. Ja der Esel ist Inbegriff des Leidens geworden, wohl auch, weil Jesus Christus am Palmsonntag auf einer Eselin ritt.
Nicht nur weil diese emfpindsamen, intelligenten, anmutigen und rücksichtsvollen Grauen oft unterschätzt und gequält werden, sie dennoch alles mit stoischer Ruhe und stillem Leid ertragen, schrieb Andy Merrifield ihnen eine 270-Seitige Liebeserklärung. Dabei gehts um viel mehr als Entschleunigung und seine Botschaft ist aktueller denn je.
Merrifield verknüpft seinen Reisebericht mit Fabeln, Kurzgeschichten und Passagen der Weltliteratur, in denen Esel nicht selten eine Hauptrolle spielen und meist die Weisesten sind. Bekanntes Beispiel ist wohl Sancho Pansas Esel Dapple in Don Quijote.
Er lässt sich von der Körpersprache, vom Aussehen und Verhalten seines tierischen Gesprächspartners zu philosophischen Exkursen inspirieren, akzeptiert ihn als Lehrer, von dem er nicht nur Geduld lernt:
„Die Dinge laufen anders, wenn man mit einem Esel auf unbefestigten Pfaden unterwegs ist: Geduld verwandelt sich in einen Tagtraum, der sanft hin und herschaukelt, wie die Wiege eines Babys oder ein Segelboot auf einem windstillen Meer“, schreibt Andy Merrifield auf Seite 39.
Und er holt uns Leser mal mit traumhaft schönen, mal mit erschreckenden Bildern hinein in seinen Tagtraum, macht sich und uns „das Geschenk, den Rhythmus präziser Schritte zu genießen, gemächlicher voranzukommen, den Augenblick wie einen kostbaren Schatz zu hüten, ihn zu verlängern, ihn auszukosten in seiner ganzen Fülle.“ Am Ende der Reise hat Andy Merrifield seinen „inneren Esel“ akzeptiert, zu innerer Freiheit und Ruhe, vom „Haben“ zum „Sein“ gefunden.
„In Gribouilles Gegenwart ist mein Leben wie ein Film vor meinem Inneren abgelaufen. Mit ihm hatte ich die Chance, vielleicht meine glückliche zweite Chance, die Vergangenheit noch einmal zu durchleben, zu analysieren, Ballast abzuwerfen, die Toten zu begraben und mein Leben fortzusetzen. Wir haben Geschichten miteinander geteilt und unsere eigene Geschichte geschaffen.
Einen Rat werde ich jedenfalls beherzigen, wenn ich demnächst zum Eseltrekking antrete: „Einem Pferd gibt man Befehle, einen Esel muss man bitten – durch die Pfütze zu waten, man muss ihm zeigen, wie tief sie ist und dass er sie gefahrlos durchqueren kann. Ein Esel ist von Haus aus weder störrisch noch schwierig, sondern einzig darauf bedacht, zu lernen, was er fürs Überleben braucht.
Ein vertrauensoller, beherzter Esel, der gut behandelt wird, hat normalerweise keine Angst, sich auf neue Verhaltensweisen einzulassen, er begreift schnell. Ein nervöser Esel. der Angst vor den Folgen seines Verhaltens hat, wurde möglicherweise schlecht behandelt und wird die Geduld des Lehrers auf eine harte Probe stellen.
Neugierige und mutige Esel stehen in einer engeren Wechselbeziehung zur ihrer Umwelt. Sie erkunden verschiedene Möglichkeiten, gelangen zu verschiedenen Ergebnissen und lernen bereitwilliger: wie man Stalltüren entriegelt, Wassereimer umkippt, einen Leckerbissen ergattert. Lauter nützliche Dinge! Das Ausmaß des Vertrauens, das ein Esel hat, beeinflusst seine Lernfähigkeit.“
Ich stelle fest: Esel sind also auch nur Menschen und lernen lieber durch positive Bestärkung, als durch schmerzhafte Erfahrungen. Und ich habe gelernt: „Mit einem Esel zu wandern und eine echte Beziehung zu ihm aufzubauen, verändert einen Menschen von Grund auf.“ Dann kann das Abenteuer ja beginnen…
Andy Merrifiel „Die Weisheit der Esel. Ruhe finden in einer chaotischen Welt“, aus dem Amerikanischen von Ursula Bischoff, 272 Seiten, Hardcover, 18 Euro, nymphenburger Verlag