Auftakt der Aktion „92 Tage für Mädchen“ DIE VERWANDLUNG DER WELT
“Und der König gab dem Prinzen seine Tochter zur Frau…“
So enden die Märchen. Die Hochzeit wird gefeiert, und alle freuen sich. Aber was, wenn die Königstochter „nein“ gesagt hätte? „Nein, ich will diesen Prinzen nicht!“ Ja, was dann?
Dann hätte die Königstochter die Welt verwandelt.
Dass diese Welt sich verändern muss, ist eine Priorität, eine absolute Notwendigkeit. Und zwar nicht erst in hundert Jahren, sondern sofort, wir haben keine Geduld mehr! In vielen Ländern ist das fürchterliche Schicksal kleiner Mädchen wie das Spiegelbild der Rolle, die der erwachsenen Frau in der Familie und in der Gesellschaft zugebilligt wird. Immer wieder wird betont, dass die Aufgabe der Frau von Gott und der Natur festgelegt wurde, und dass solche Gesetze nicht gebrochen werden dürfen. Mädchen gelten als über-angepasst und konfliktunfähig, als sicheres Gut des Mannes wie die Schafe, die Kamelstuten und die Olivenhaine, sowie als gehorsame Trägerinnen der Familienehre.
Dahinter steckt ein perfider Schwindel, eine Verschwörung, die jedes Mädchen zur Sklavin stempelt. Dass Mädchen eigenständige kleine Persönlichkeiten sind, mit Herz, Gefühl und Verstand, fällt dabei nicht ins Gewicht. Heute kann man wohl sagen, dass der grundlegende Unterschied zwischen einer zurückgebliebenen und einer reifen Gesellschaft ganz einfach der ist, dass bei der einen die Mädchen normale Individuen sein dürfen und bei den anderen nur Organismen, die der Fortpflanzung dienen. In diesen Gesellschaften sind Mädchen stets unterernährt, haben keinen Zugang zur medizinischen Versorgung und schon gar nicht zur Bildung. In einer Zeit, da der heranwachsende Mensch mit neugierigen Augen und wachem Geist die Welt entdeckt, müssen diese Mädchen sich verhüllen. Ihr Bewegungsdrang wird gedrosselt, ihr Körper kennt weder Sonne noch Luft und kann sich nicht entwickeln. Diese armen Geschöpfe werden um ihre Kindheit geprellt. Zehnjährige werden bereits verheiratet, oft an Männer, alt genug, um ihre Grossväter sein zu können! Mit zwölf oder dreizehn haben sie ihr erstes Kind. Ihr Körper ist noch nicht bereit für die Schwangerschaft, sie leiden grosse Schmerzen.
Nun, das Baby könnte sie dafür entschädigen. Eine lebendige Puppe, die man verhätscheln und umsorgen kann! Aber da sind noch die häuslichen Pflichten, die auf ihren Schultern lasten. Und schon ein Jahr später das zweite Kind. Das dritte folgt. Der Organismus hält das nicht aus, die Gewebe reissen. In einem Alter, wo andere, glückliche Mädchen die Schule besuchen, Sport treiben, tanzen und ihre Jugend in vollen Zügen geniessen, verlieren kleine Gefangene ihre Gesundheit, sind schon verbraucht, bevor sie erwachsen sind. Denn immer wieder schöpfen die ungeborenen Kinder ihre Lebenskraft aus einem Körper, der selbst keine Kraft mehr in sich hat. Die Mädchen verlieren Blut, Kot und Urin. Sie schämen sich sehr. Sie werden invalide. Ihr Leben ist zu Ende, bevor es richtig begonnen hat. Nicht genug: Mädchen werden beschnitten, verstümmelt, vor der Hochzeitsnacht „aufgemacht“ und nach jeder Geburt wieder „zugenäht.“ Alles ist auf ihren Unterleib bezogen! Archaische Rituale wenden die perversesten Grausamkeiten an, um Mädchen und junge Frauen „in ihre Schranken“ zu weisen. Darüber hinaus zeigen Zwangsheiraten, Mädchenhandel und Prostitution das ganze Elend einseitig männlich geprägter Kulturen.
Die Gewaltherrschaft der Väter, Brüder und doppelzüngiger Moralaposteln macht auch die Frauen und Mütter zu Komplizinnen. Weil sie ja nur in der Tyrannei des Alters die Entschädigung für die Ausbeutung in ihrer Jugend finden. Wie kann diese instrumentali-sierte Ausbeutung der Kindheit, dieser sinnlose Vergeudung des menschlichen Potentials, endlich gebrochen werden? Die Auflehnung der Mädchen ist eine Auflehnung der Menschheit, die unterstützt und gefördert werden muss. Wir können nur Aufklärungsarbeit leisten, die materiellen Rahmenbedingungen schaffen. Die Auflehnung selbst muss von den Heranwachsenden ausgehen, die gelernt haben, nicht mehr als Karikatur des „naturgewollten Selbstopfers“ ihr Dasein zu fristen. Denn nur gebildete junge Frauen können sich befreien und den Unabhängigkeitskampf auch für ihre ausgebeuteten Mütter führen.
Doch es gibt etwas Wesentliches, das gesagt werden muss. Schülerinnen müssen diese Erkenntnis in sich tragen, als Waffe für den Kampf. Die schnöde Wahrheit ist nämlich, dass man Angst vor ihnen hat! Warum sonst werden Mädchenschulen in die Luft gesprengt? Zwölfjährige mit Büchern unter dem Arm mit Säure übergossen, Bomben auf dem Weg ihrer Schulbusse gelegt?
Die Feiglinge, die kleine Mädchen bekämpfen, wissen genau: Haben Mädchen Zugang zur Bildung, verändern sie die Welt. Das darf – in ihren Augen -um keinen Preis geschehen, sonst ist bald ihre Herrschaft ein Trümmerhaufen. Das sollte lieber heute als morgen geschehen, aber das giftgetränkte Unkraut wuchert überall, hat bereits zähe, tiefe Wurzeln geschlagen. So unvorstellbar schrecklich es ist, hier gilt es, durchzuhalten! Die Freiheit ist niemals ein Geschenk. Die Freiheit fordert Tränen, Opfer und Blut. Jedes Mädchen muss eine kleine Kriegerin werden, wie die vierzehnjährige Malala Yousafzai aus Pakistan, die für alle Kinder die gleiche Bildung fordert. Ein Fanatiker hat ihr eine Kugel in den Kopf gejagt. Aber Malala wurde operiert und gerettet. Sie lässt sich nicht einschüchtern, sie ist ein Vorbild für Millionen. Ihre Feinde haben angedroht, sie überall auf der Welt zu verfolgen. Ach, wie müssen diese Blindwütigen sich vor ihr fürchten!
In meinem Buch „Aischa oder die Sonne des Lebens“ sagt die selbstbewusste Grossmutter Ma Djamila zu der jungen, verschüchterten Aischa:
„Eines musst du wissen: Für eine Frau bedeutet Ungehorsam kein Laster, sondern eine Tugend. Ungehorsame Frauen werden geachtet, gehorsame mit Füssen getreten.“
Und Aischa sieht ein: „Bereits als kleines Kind sind die Mädchenmit dem Weg, den sie gehen müssen, vertraut. Sie sind im Laufgitter der Traditionen gefangen, behindert und begrenzt durch Hemmungen, Vorschriften, unerklärliche dunklen Tabus. In meiner Grossmutter aber flackerte eine helle, leuchtende Lebensflamme. Sie dachte, sie handelte, sie vertrat ihre Meinung. Den äusserlichen Hindernissen mass sie keine Bedeutung mehr bei. Sie hatte das Wesentliche bewahrt: die Freiheit des Geistes, die wie ein Eisvogel über dem Wasser fliegt und leuchtet.“
©Federica de Cesco / Plan International Switzerland
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Zur Aktion “92 Tage für Mädchen”
Mit der Aktion “92 Tage für Mädchen” fordern engagierte Frauen und Mädchen aus der Schweiz gemeinsam mit Plan: “Bildung und Schutz für Mädchen weltweit!” Vom 12. Juli 2013, dem Geburtstag der pakistanischen Bloggerin und Aktivistin für Mädchenrechte Malala Yousafzai, bis zum 11. Oktober, dem internationalen Mädchentag, werden jeden zweiten Tag künstlerische Beiträge zur Situation der Mädchen weltweit auf www.plan-schweiz.ch/92tage publiziert, die aufrütteln, berühren, beflügeln – und zur Mithilfe aufrufen.
Die Aktion endet am 11. Oktober 2013 – dem internationalen Mädchentag – mit einem Anlass für Gross und Klein auf dem Berner Bundesplatz.“