Die Vernichtung der Juden und das Schweigen von Pius XII.

Von Nicsbloghaus @_nbh

Die vom Ratzinger-Papst geplante Selig- und Heiligsprechung des Pacelli-Papstes Pius XII. (Pontifikat 1939 – 1958) ver­an­laßte den bel­gi­schen Wissenschaftler Dirk Verhofstadt sich 2008 näher mit dem Wirken des letz­te­ren zu befas­sen. So ent­stand seine Promotions-Schrift „Pius XII und der Vernichtung der Juden“, die nun vom Alibri-Verlag in deut­scher Sprache her­aus­ge­ge­ben wurde.

Ratzinger lobte den Pacelli-Papst für „die heroi­schen Tugenden, die der Papst in sei­nem Leben zeigte und die als Beispiel für die Christen die­nen könn­ten”. Verhofstadt stellt dage­gen fest, daß eben jener zu kei­nem Zeitpunkt den Antisemitismus und die Gräueltaten ange­pran­gert habe. Und er lis­tet eine ganze Reihe von Fragen auf, zu denen Pius XII. geschwie­gen habe. Die Frage, warum hat der Papst (nicht nur) zur Vernichtung der euro­päi­schen Juden geschwie­gen, zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Man könnte es aber doch sehr kurz machen mit die­ser Über­le­gung: Ja, warum soll­ten denn Papst und katho­li­scher Klerus gegen faschis­ti­schen Antisemitismus pro­tes­tie­ren? Ist doch der Antjudaismus (die Juden als Christusmörder) ein Kernpunkt der christ­li­chen Religion!

Widerspruch ruft beim Rezensenten in wei­ten Teilen Verhofstadts Vorwort her­vor. In Bezug auf die Europäische Union bringt er, vol­ler Illusionen und Idealisierung, nur Hagiographisches zu Papier, wenn es um das Verhältnis von Staat und ins­be­son­dere der katho­li­schen Kirche geht. Zu einer Gegenfrage pro­vo­ziert z.B. sein Satz: „Hat die Kirche, hat vor allem der Papst, als Hüter sei­ner treuen Herde, Ausreichendes geleis­tet, um die katho­li­schen Werte zu schüt­zen?” – Welches sind denn nun diese omi­nö­sen „katho­li­schen Werte”?

Der Autor hat sein Buch in fünf Teile geglie­dert: I – Strategie; II – Kapitulation; III Unterlassung; IV – Mitschuld und V – Verleugnung.

Strategie

Von Naivität geprägt, trotz aller Sachlichkeit, ist das Kapitel 1 „Die Heiligsprechung von Pius XII.” Ein Beispiel dafür: „Und wie rea­gierte der höchste mora­li­sche Führer der Welt auf diese dra­ma­ti­schen Ereignisse?” (S. 17) Ähn­li­che Wendungen kom­men noch oft­mals in die­sem Buch vor, wie „höchste mora­li­sche Autorität der Menschheit”. – Wer sieht einen Papst als sol­ches? Sind sol­che Titulierungen nicht viel­mehr Anmaßungen eines abso­lut regie­ren­den Theokraten?! Ein Wissenschaftler sollte sol­che Formulierungen auf jeden Fall nicht unhin­ter­fragt über­neh­men.

Im Kapitel 2 setzt sich Verhofstadt mit der nach 1945 mas­sen­haft kur­sie­ren­den Schutz-Behauptung „Wir haben es nicht gewußt” aus­ein­an­der und beweist anhand vie­ler kon­kre­ter und beleg­ba­rer Beispiele, daß Ausgrenzung, Verfolgung und mil­lio­nen­fa­che Vernichtung der Juden kei­nes­falls ein Geheimnis waren. Er schreibt: „Auch deut­sche Unternehmer kauf­ten Eigentum von ent­eig­ne­ten und ver­haf­te­ten Juden für einen Bruchteil des­sen wah­ren Wertes.” (S. 29) Hier ist eben­falls Widerspruch ange­sagt, denn es waren eben und gerade diese „auch deut­sche Unternehmer”, die Hauptnutznießer soge­nann­ter Arisierungen waren!

Konkreter wird der Autor im Kapitel 3 „Mörder Gottes”. Hier gibt er einen geschicht­li­chen Über­blick über den in Europa seit Errichtung des Staatschristentums offi­zi­el­len Antijudaismus/Antisemitismus, der in ers­ter Linie von Klerikern befeu­ert wor­den ist. Den Satz: „Wie sehr der Antisemitismus als Krebsgeschwür in der christlich-europäischen Geschichte gras­sierte…”(S. 47) sollte man all jenen aus Politik und Mainstream-Medien ent­ge­gen­hal­ten, die wider bes­se­res Wissen heute von den „jüdisch-christlichen Wurzeln Europas” schwa­feln… Aber auch hier muß sich Widerspruch regen, wenn er z.B. (the­ma­tisch abglei­tend) vom Antisemitismus der von Trotzki (einem Juden) geführ­ten Roten Armee schreibt oder gar die­ses: „Die Verfolgung der Juden wird (…) noch wei­ter­ge­hen mit der (…) ‚Befreiung‘ durch die Rote Armee…” (S. 48) Ähn­li­ches auch auf S. 53, wenn er katholisch-polnische Pogrome in den Jahren 1918 – 1921 den Sowjetrepubliken Weißrußland und Ukraine anlas­tet.

Ja, man muß Verhofstadt lei­der auch Oberflächlichkeiten und Ungenauigkeiten anlas­ten, wenn er sein eigent­li­ches Thema ver­läßt. Und das ist nun mal der Komplex Judenvernichtung durch die Faschisten Europas und die Haltung des christ­li­chen Klerus hierzu. Und nicht nur der katho­li­sche Klerus war anti­se­mi­tisch, son­dern der evan­ge­li­sche nicht min­der. Hier zitiert der Autor Luther und kon­sta­tiert: „Der Kirchenreformator rief als Erster die welt­li­chen Herrscher auf, alle Juden zu töten.”(S. 51)

„Was wußte der Papst?” – so ist das 4. Kapitel über­schrie­ben und am Ende des­sel­ben zieht Verhofstadt das Fazit: „Die Frage ist also nicht, ob der Papst infor­miert war über die enorme Tragödie, son­dern was er mit die­sem Wissen machte.” (S. 74)

Im fol­gen­den Kapitel „Hat der Papst geschwie­gen?” zeigt der Autor, daß sich Pius XII. regel­mä­ßig zu Wort gemel­det hat, vor allem dann, wenn er Bedrohungen für die Allmacht des katho­li­schen Klerus im Deutschen Reich und in den beset­zen Gebieten ver­mu­tete. Das Schicksal von Juden, Kommunisten oder ortho­do­xen Christen inter­es­sierte ihn dage­gen nicht. Und wenn der Papst sich zu Wort mel­dete, dann lt. Verhofstadt so: „Die meis­ten Kommentare waren ver­packt in schwer zu ver­ste­hend reli­giöse Phrasen, wel­chen die Kraft fehl­ten, um selbst gut­wil­lige Zuhörer zu einer nen­nens­wer­ten Reaktion gegen die ‚Nazis‘ zu moti­vie­ren.” (S. 81)

Und warum das alles? Das wird offen­bar in Kapitel 6 „Angst vor dem Kommunismus”. Angst warum? Weil Aufklärung, libe­rale Demokratie, Sozialismus und Kommunismus die bean­spruchte Allmacht der Priesterkaste über Mensch, Gesellschaft und Staat bedroh­ten. Angst vor dem Kommunismus doch auch des­halb, weil „die Kirchen” in ers­ter Linie mil­li­ar­den­schwere Wirtschaftsunternehmen sind (seit der Antike die größ­ten Grundbesitzer Europas)… Verhofstadt stellt in die­sem Kapitel auch die­sen Zusammenhang dar: „Er sah im ‚Nationalsozialismus‘ die ein­zige Kraft, wel­che die rote Gefahr auf­hal­ten konnte. Eine Verurteilung des Holocausts und des ‚Nationalsozialismus‘ hätte diese Kraft unter­mi­niert und das wollte er nicht.” (S.85)

Die ukrai­ni­schen Juden „wur­den von christ­li­chen Soldaten, die Koppelschlösser mit den Worten ‚Gott mit uns‘ tru­gen, erschos­sen. Die Frontsoldaten und Eisatzgruppen glaub­ten, einen hei­li­gen Krieg zu füh­ren und wur­den darin von dem deut­schen Feldbischof Josef Rarkowski kräf­tig ermu­tigt (…) Die deut­schen Soldaten und SS-Männer wur­den bei ihren Tötungen durch die evan­ge­li­schen und katho­li­schen Geistlichen nicht gebremst, son­dern gera­dezu ange­spornt.” (S. 87) Die Militärangehörigen hat­ten ihren hei­li­gen Fahneneid auf Hitler übri­gens „bei Gott” geschwo­ren…

(Ein his­to­ri­scher Grund mehr für Laizisten, die Militärseelsorge deut­scher Provenienz grund­sätz­lich abzu­leh­nen!)

Und was sagte ein Pius ange­sichts sol­cher Verbrechen? - „Die Kirche hat die Mission, der Welt die erha­benste und not­wen­digste Botschaft zu ver­kün­den, näm­lich die Würde des Menschen.” (S. 91) Hier erüb­rigt sich wohl ange­sichts der Kriminalgeschichte der katho­li­schen Kirche jeg­li­cher Kommentar. Nein, eine Bemerkung doch noch. Wie hieß es stets bei der Durchsetzung die­ser Mission? – „Taufe oder Tod.”

Kapitulation

Der zweite Teil „Kapitulation” geht aus­führ­lich dar­auf ein, wie sich der Klerus mit faschis­ti­schen Regimes zur Durchsetzung eige­ner Interessen arran­gierte. Nicht nur arran­gierte, son­dern sogar maß­geb­lich unter­stützte (Franco-Spanien, Tiso-Slowakei, Ustascha-Kroatien ebenso wie Mussolini-Italien und Hitler-Deutschland). Dafür ließ die Kurie sogar katho­li­sche Parteien fal­len. Angesprochen wer­den hier u.a. das Reichskonkordat des „Heiligen Stuhls” mit der Hitler-Regierung. Übri­gens der erste völ­ker­recht­li­che Vertrag Nazi-Deutschlands, der in der Bundesrepublik immer noch gel­ten­des Recht ist. Angesprochen wer­den auch die Nürnberger Rassegesetze, zu deren Durchsetzung die Kirchen eif­rig Beihilfe leis­te­ten, sowie das Euthanasie-Programm zur Ermordung geis­tig und kör­per­lich behin­der­ter Menschen.

Eine Oberflächlichkeit, ja eine Verfälschung der Geschichte aber auch in die­sem Teil, wenn Verhofstadt die SPD zur „ein­zi­gen Partei, die tat­säch­lich Widerstand leis­tete” erklärt. Die Kommunisten, die schon vor 1933 erklär­ten, wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, wer Hitler wählt, wählt den Krieg, und die nach 1933 in zahl­rei­chen Widerstandsgruppen akti­ven Widerstand leis­te­ten wer­den schlicht ver­schwie­gen… Hm, warum dann aber sah der katho­li­sche Klerus in den Kommunisten die Hauptgefahr?

Bezugnehmend auf das Konkordat schreibt Verhofstadt: „Jahre spä­ter stellte sich her­aus, daß es noch ein gehei­mes Zusatzprotokoll zu dem Abkommen gab, das Privilegien für den Klerus im Falle einer all­ge­mei­nen Mobilmachung ent­hielt.” (S. 118)

Angeblich habe Pius XII. ener­gi­schen Widerstand geleis­tet, als er 1937 seine Enzyklika „In bren­nen­der Sorge” ver­kün­dete. Kapitel 11 ist die­sem Thema gewid­met. Verhofstadt kommt hier zu einem ver­nich­ten­den Urteil: „Im Text ist nicht die Rede von irgend­ei­ner ‚bren­nen­den Besorgnis‘ über die zahl­lo­sen Menschen, die damals in den Konzentrationslagern ein­ge­sperrt waren, über die Judengesetze…” (S. 132) Nein, Pius war ledig­lich in bren­nen­der Sorge um den Allmachts-Anspruch der Papst-Kirche…

Sorge berei­tete dem Klerus ledig­lich, daß es in der Nazi-Partei durch­aus auch andere reli­giöse Auffassungen gab (Neuheidentum, Gottgläubigkeit). Dennoch, waren die soge­nann­ten Amts-Kirchen nach wie vor domi­nie­ren. „Das ergibt sich dar­aus, daß über Zweidrittel der Mitglieder der Allgemeinen SS kirch­lich gebun­den waren; 54,2 % davon blie­ben der evan­ge­li­schen und 23,7 % dem katho­li­schen Glauben treu. Nur in den Mitgliedern der Waffen-SS war eine Mehrheit gott­gläu­big, doch auch selbst in deren Einheiten dien­ten katho­li­sche Kaplane.” (S. 167) Als 1944 zur Waffen-SS nicht nur Freiwillige ein­ge­zo­gen wur­den, son­dern auch Wehrpflichtige, da dürfte der Anteil „tra­di­tio­nel­ler Konfessionen” sich auch hier deut­lich erhöht haben…

Kapitel 16 beschäf­tigt sich mit dem „Hang zum Autoritarismus”. Hier klingt lei­der auch bei Verhofstadt die „Totalitarismus-Theorie” an und er gibt unhin­ter­fragt katho­li­sche Horrormeldungen über Verbrechen an Priestern, Mönchen und Nonnen durch Kommunisten in Sowjetrußland und Volksfrontspanien wie­der. Doch, so der Autor, „aber Tatsache bleibt, daß die Führer der Christen eine beson­dere Form des Totalitarismus prin­zi­pi­ell unter­stütz­ten, den Fasschismus…” (S. 175) Hier stellt Verhofstadt dann die rich­ti­gen Fragen: „Warum wider­setzte sich die Kirche aus­drück­lich der Entnazifizierung nach dem Krieg? Warum wurde kein hoch­ran­gi­ger Nazi exkom­mu­ni­ziert?”(S. 177)

Unterlassung

Daß der Papst und der christ­li­che Klerus nicht bloß geschwie­gen haben, das wird im Teil III „Unterlassung” deut­lich. Zum faschis­ti­schen Über­fall auf (das katho­li­sche) Polen schreibt Verhofstadt: „…drohte die Gefahr, daß der Papst und die katho­li­schen Bischöfe den deut­schen Angriff auf Polen miß­bil­li­gen wür­den, doch sie taten es nicht. Die deut­schen katho­li­schen Kirchenführer hie­ßen die­sen ein­sei­ti­gen und nicht erklär­ten Krieg sogar gut, trotz der Tatsache, daß Zehntausende katho­li­scher Polen, dar­un­ter Hunderte von Priestern, ermor­det wur­den.” (S. 199)

Und warum sprach sich hier das Oberhaupt der Katholiken nicht gegen diese Aggression aus, warum ver­wei­gerte er sogar bewußt eine Verurteilung Nazi-Nazideutschlands. Verhofstadt dazu lapi­dar: „Polen war der ideale Ausgangspunkt für den Angriff auf die Sowjetunion im Jahre 1941.”(S. 206) Ja, Polen war eben das Territorium, das zwi­schen Deutschland und der Sowjetunion lag. Und der Antikommunismus der Papstkirche ist nun mal so stark, daß man da Kollateralschäden, wie die Ermordung von Juden und sogar katho­li­schen Polen, bil­li­gend in Kauf nimmt.

Aber auch beim „Krieg in Westeuropa”, so Kapitel 19, ver­hielt der Papst sich nicht anders…„Interessanterweise gab der Papst keine offene Verurteilung des deut­schen Angriffs ab (…) Einen sol­chen öffent­li­chen Protest hat er jedoch sehr wohl gegen die Sowjetunion am 26. Dezember 1939 aus­ge­spro­chen, als die rus­si­schen Truppen Finnland über­fie­len. (…) In kei­nem der (…) Länder [Belgien, Niederlande, Luxemburg und Frankreich; SRK] bestand die Gefahr einer bol­sche­wis­ti­schen Revolution, in kei­nem die­ser Länder wurde die Kirche unter­drückt (im Gegenteil) und kei­nes die­ser Länder bedeu­tete eine Bedrohung für die Bewahrung des christ­li­chen Abendlandes.” (S. 211) Nun, dem Papst war bewußt, daß Hitler-Deutschland die Ressourcen eben die­ser Länder für den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion benö­tigte. Das sagt Verhofstadt hier lei­der nicht.

Weitere Kapitel die­ses Teils befas­sen sich mit den „Deportationen aus Frankreich”: Juden wer­den aktiv von fran­zö­si­schen Kollaborateuren erfaßt – im Einverständnis mit der gro­ßen Mehrheit des Episkopates – und in deut­sche Vernichtungslager depor­tiert. Denn „Vichy erwies der katho­li­schen Kirche den Gefallen, Gott in die staat­li­chen Schulen zurück­keh­ren zu las­sen, wäh­rend die kirch­li­chen Schulen und der Bau und die Restaurierung von Kirchen sub­ven­tio­niert wur­den.” (S. 217) Warum also gegen Judenvernichtung pro­tes­tie­ren, wo doch katho­li­schen Macht- und Geld-Ansprüchen so bereit­wil­lig und groß­zü­gig ent­spro­chen wurde?

1941 wandte sich dann das faschis­ti­sche Deutschland sei­nem Hauptziel zu. Dazu schreibt Verhofstadt in Kapitel 21 „Die Unterstützung für das Unternehmen Barbarossa”: „Die Unterstützung der Kirchen nahm nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 noch zu. Die Abscheu der christ­li­chen Führer vor dem Bolschewismus saß in der Tat sehr tief. (…) Deutsche katho­li­sche Kirchenführer (…) äußer­ten sich in Predigten und Hirtenbriefen posi­tiv zu die­sem Über­fall. Sie fan­den ihn nutz­brin­gend, nicht nur für das Land, ‚son­dern zugleich, weil er dem hei­li­gen Willen Gottes folge‘ (…) Feldbischof Rarkowski spornte die Soldaten zu einem euro­päi­schen Kreuzzug gegen das bol­sche­wis­ti­sche Untermenschentum an.” (S. 220) – Hm, soll da nicht ein gewis­ser Jesus mal was von Nächsten- und gar Feindesliebe geberg­pre­digt haben???

Nach dem Über­fall auf die Sowjetunion nah­men die Greueltaten der Faschisten gegen Juden und Slawen beson­dere Dimension an. Doch nach wie vor berührt das die angeb­lich „höchste mora­li­sche Autorität” der Menschheit nicht im gerings­ten, obwohl auf den ver­schie­dens­ten Wegen detail­lierte Informationen über Massenmorde, Hilferufe auch von ein­fa­chen katho­li­schen Pfarrern, in den Vatikan gelan­gen.

Verhofstadt wird auch hier sehr deut­lich, wenn es um kle­ri­ka­les Mittun im ver­bre­che­risch­ten und ver­hee­rends­ten Krieg der Menschheitsgeschichte geht:

„An der Ostfront arbei­te­ten wäh­rend des Krieges fast ein­tau­send Militärgeistliche. (…) sie wur­den von dem den ‚Nazis‘ wohl­ge­son­ne­nen Militärbischof Franz Rarkowski gelei­tet. Die Kaplane hat­ten den Dienstgrad eines Majors der Wehrmacht. (…) Sie tru­gen auch ein Kreuz um den Hals und eine Pistole an der Hüfte – eine deut­sche Luger P-08 mit einem 7,65-Millimeter-Kaliber, die Standardwaffe der Einsatzgruppen. (…) Sie saßen in der Mitte des Mordbetriebes, zele­brier­ten Messen, hör­ten Beichten und erteil­ten grup­pen­mä­ßig die Absolution an die Soldaten. (…) In die­sem Sinne waren die Kaplane keine unbe­tei­lig­ten Beobachter, die sich nur um die spi­ri­tu­el­len Bedürfnisse der Gläubigen küm­mer­ten, son­dern sie legi­ti­mier­ten mit ihrem Tun die sicht­ba­ren Greueltaten, die im Namen Gottes und Hitlers began­gen wur­den.” (S. 226/227) – Und auch in der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Militärdseelsorge geht es nicht um indi­vi­du­elle spi­ri­tu­elle Bedürfnisse von Christen…

Allerdings kann es der Autor auch hier lei­der wie­der nicht las­sen, unhin­ter­fragt katho­li­sche Zerrbilder über angeb­li­che Greuel von rus­si­schen Kommunisten an unschul­di­gen Priestern wie­der­zu­ge­ben.

Im Kapitel 23 geht der Autor auf den „Widerstand” ein. Hier wird er wie­der ober­fläch­lich, wenn er als Beispiele das für das Hollywood-Melodram „Operation Walküre” mit Tom Cruise als Graf Stauffenberg oder die Erinnerungen des Hitlerbiographen Joachim Fest anführt.

Angesprochen wird aber auch der Widerstand zum Beispiel der Geschwister Scholl oder ein­zel­ner ein­fa­cher Pfarrer und Pastoren, die aller­dings ohne Rückendeckung ihrer Kirchenoberen han­delt. Wie viele christ­li­che Laien auch. Nach 1945 deu­tete der hohe Klerus diese ver­ein­zel­ten, indi­vi­du­el­len Widerstandsleistungen in DEN Widerstand DER Kirchen um, um neue Machtansprüche im Nachkriegsdeutschland zu bean­spru­chen.

Mitschuld

Beklemmend wird es dann in Teil IV „Mitschuld” – und zwar in jenen Marionettenstaaten von Hitlers Gnaden, wo ein­deu­tig klerikal-faschistische Regimes errich­tet wur­den. Wo Priester höchst­selbst Staatsämter über­nah­men, wie z.B. der Priesterpräsident Tiso in der Slowakei. Und wie ver­hielt sich hier der Papst?

„Insgesamt wur­den wäh­rend der Herrschaft des katho­li­schen Präsidenten 105.000 slo­wa­ki­sche Juden, d.h. 78 % ihrer gesam­ten Vorkriegszahl, aus­ge­rot­tet. Nach dem Krieg wurde Tiso an die Tschechoslowakei aus­ge­lie­fert, wo er am 15. April 1947 zum Tode ver­ur­teilt und drei Tage spä­ter gehängt wurde. Der Vatikan pro­tes­tierte.” (S. 270/271)

Noch grau­en­haf­ter ging es im klerikal-faschistischen Staat der Ustascha in Kroatien zu. Beim Lesen der von Verhofstadt auf­ge­führ­ten Greueltaten kommt nicht bloß Beklemmung auf, son­dern Eiseskälte läßt erschau­ern. Und hier waren es aus­ge­recht unzäh­lige Priester und Franziskaner-Mönche, die sich als eigen­hän­dige Mörder und KZ-Kommandanten einen unrühm­li­chen Namen mach­ten. Hier wur­den nicht nur Juden und Roma zu deren Opfern, son­dern zu Hunderttausenden auch ortho­doxe christ­li­che Serben. Der Autor zitiert hierzu den Priester Ivo Gubina, der schrieb, daß es „not­wen­dig und nütz­lich war, die Serben zu ver­nich­ten und umzu­tau­fen. (…) Aber da diese Elemente sich nicht ändern woll­ten. Haben wir nach der katho­li­schen Moral das Recht, sie zu ver­nich­ten. Mit Feuer und Schwert.” (S. 275) – Auch hier erüb­rigt sich wohl jeg­li­cher Kommentar.

Dieser „katho­li­schen Moral” ist es wohl geschul­det, daß sich der Vatikan nach 1945 der katholisch-kroatischen Kriegsverbrecher (ein­schließ­lich ihres „Führers” Ante Pavelic) beson­ders innig annahm, ihnen Unterschlupf in ita­lie­ni­schen und öster­rei­chi­schen Klöstern gewährte und spä­ter zur Flucht nach Spanien und Südamerika. So wie auch ande­ren faschis­ti­schen Massenmördern (siehe dazu auch Kapitel 29 „Hilfe für Kriegsverbrecher”).

Aber Pius XII. zeigte sich nicht nur am Schicksal der Juden weit weg des­in­ter­es­siert. Mitleid, Barmherzigkeit und Lebensrettung konn­ten auch die die römi­schen Juden direkt „Unter den Fenstern des Vatikans” – so Kapitel 26 – nicht von ihm erwar­ten.

Kapitel 27 ist über­schrie­ben mit „Der unga­ri­sche Holocaust”. Leider beginnt die­ses Kapitel eben­falls mit einer Oberflächlichkeit: „Viele unga­ri­sche Soldaten kämpf­ten mit der deut­schen Armee an der Ostfront gegen die Russen.” (S. 297) Historisch kor­rekt müßte es jedoch hei­ßen, daß unga­ri­sche Truppen gemein­sam mit der Wehrmacht die UdSSR über­fal­len haben.

Gerade aus Ungarn sind mutige Menschen in offi­zi­el­len Ämtern bekannt, die Tausenden von Juden das Leben ret­te­ten. So der schwe­di­sche Konsul Raoul Wallenberg, aber auch sein Schweizer Kollege Carl Lutz. Nicht so die katho­li­sche Kirche oder der päpst­li­che Nuntius.

Verleugnung

Im abschlie­ßen­den Teil V geht Verhofstadt auf die „Verleugnung” ein und beleuch­tet hier auch das „Versagen der Alliierten” (Kapitel 33), gemeint sind hier die West-Alliierten, die alles unter­lie­ßen, den bedräng­ten Juden zu hel­fen: so durch Asylverweigerungen oder spä­ter z.B. durch die Nichtbombardierung der Eisenbahnlinien zu den Vernichtungslagern.

Leider viel zu kurz geht der Autor auf die Geschichtsfälschungen des Klerus nach 1945 ein, der die Kirchen – lei­der wei­test­ge­hend unwi­der­spro­chen – sich zur nahezu ein­zi­gen Widerstandsorganisation gegen das Nazi-Regime hoch­sti­li­sie­ren konnte. Wobei der evan­ge­li­sche Klerus immer­hin einige vage gehal­tene Worte zu ihrem „Versagen” in der Nazi-Zeit fan­den, wäh­rend der katho­li­sche jeg­li­ches Schuldbekenntnis ver­wei­gert hat.

Die Kapitel 35 und 36 beschäf­ti­gen sich mit der Rolle von „Pius XII. in der Geschichte” und mit dem Thema „Die mora­li­sche Schuldfrage”.

Der Ratzinger-Papst hat sei­nen Vorgänger als „ehren­wert” bezeich­net. Doch ist es z.B. diese seine Politik ehren­wert: „Der Vatikan selbst ver­ur­teilte die deut­schen Angriffe aber nie, pro­tes­tierte jedoch laut­stark, als die deut­schen Städte bom­bar­diert wur­den.” (S. 379) Oder wie Verhofstadt sehr deut­lich es for­mu­liert: „Aber eines ist sicher: Pius XII. schwieg zur [mil­lio­nen­fa­chen; SRK] Vernichtung der Juden in Europa und pro­tes­tierte Laut und nach­drück­lich gegen eine Bombardierung sei­ner Paläste.” (S. 380)

Zuzustimmen ist Verhofstadts „Schlußfolgerung(en)” in Kapitel 37: „Der rote Faden ist klar: Die katho­li­sche Kirche pro­tes­tierte nur, wenn ihre eige­nen Interessen auf dem Spiel stan­den, aber sie schwieg, als die deut­schen und andere euro­päi­sche Christen durch anti­se­mi­ti­sche Ideen indok­tri­niert und die Juden ver­folgt und ermor­det wur­den.” (…) Die katho­li­sche Kirche will Pius XII. den­noch hei­lig­spre­chen.” (S. 389) Für den Autor wäre das nichts ande­res als das: damit „würde das hohe christ­li­che Prinzip der Nächstenliebe zu einem wert­lo­sen Begriff her­ab­ge­setzt.” (S. 389)

Das ist trotz aller ange­merk­ten Oberflächlichkeiten und his­to­ri­schen Ungenauigkeiten zu Fragen außer­halb des Verhältnisses des katho­li­schen Klerus zu faschis­ti­schen Regimes eine emp­feh­lens­werte Lektüre. Sie gewinnt ihren Wert nicht zuletzt aus der Aufarbeitung unzäh­li­ger Primär- und Sekundärquellen.

Siegfried R. Krebs

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]

Dirk Verhofstadt: Pius XII. und die Vernichtung der Juden. A. d. Niederländ. v. Rudy Mondelaers (†). 450 S. m. Abb. kart. Alibri-Verlag. Aschaffenburg 2013. 26,00 Euro. ISBN 978-3-86569-076-0