Die Vergangenheit ist kein treuer Begleiter

Die Compagnie 3637 aus Belgien beeindruckte mit einem französischsprachigen Stück beim Szene Bunte Wähne Tanzfestival im Dschungel Wien

Mit einem Knall geht das Licht aus. Die Bühne ist dunkel bis auf den Lichtkegel einer Taschenlampe, die über die Bühne getragen wird.

Zu Beginn von Cortex, einem Stück der belgischen Compagnie 3637, das im Rahmen des Szene Bunte Wähne – Festivals im Dschungel Wien aufgeführt wird, befindet man sich in einem Keller, den man aber durch die Musik von Damien Zuidhoek schnell verlässt. Der Einsatz akustischer Räume ist über das gesamte Stück ebenso unaufgeregt wie spannend. Man folgt den beiden Tänzerinnen in ihr Inneres, ihre Erinnerung. Über Sinneseindrücke wie das Kosten von Marmelade, das Riechen an einem alten Schal oder das Durchwühlen einer Kiste alter Fotos kommen Bilder hervor, die deutlich und doch alles andere als klar sind.

Erst scheint die Orientierung für das Publikum einfach. Eine Tänzerin trägt Trenchcoat und Stöckelschuhe und repräsentiert eine Erwachsene (Bénédicte Mottart), die andere, in kurzen Hosen und mädchenhafter Bluse, ist ihr jüngeres Ich (Coralie Vanderlinden). Schnell fächert sich das Stück jedoch sehr viel komplexer auf. Erinnerungen trügen, werden absichtlich und unabsichtlich verfälscht, sind an der einen Stelle ungenau und an anderen detailreich, so dass vielleicht niemand recht hat in der Frage, ob der Vater immer oder nie unpünktlich, immer oder nie da war und ob die immer gleiche Geschichte, die er erzählt hat, die Lieblingsgeschichte oder langweilig war.

Eigentlich für ein französischsprachiges Publikum konzipiert, wird Cortex in Wien mit akustischen „Untertiteln“ in deutscher Sprache aufgeführt. Was für ein so vieldeutiges Stück eine Chance sein könnte, den Fokus verstärkt auf den tänzerisch-performativen Aspekt und die Freiheit in der Interpretation zu legen, wird durch ein schlecht funktionierendes Mikrofon leider erheblich erschwert. Die Entscheidung, manches unübersetzt zu lassen und somit die Aufmerksamkeit nicht weg von der akustischen Qualität, sondern hin zur Verarbeitung von Information zu lenken, gibt der Aufführung in französischer Sprache jedoch einen eigenen Charme.

Mit zu den spannendsten Momenten zählen jene der Kommunikation zwischen den auf der Bühne Agierenden. Für das Publikum entsteht dadurch eine ernsthafte, wertschätzende Atmosphäre: Hier und jetzt, auf dieser Bühne, wird etwas verhandelt, zwischen der Hauptfigur „Ella“ und ihren Erinnerungen, aber auch zwischen den Tänzerinnen, der Musik und dem Publikum.

So ist am Ende nicht eindeutig, wer wem eine Geschichte erzählt, ob das Kind aus den Erinnerungen die Erwachsene braucht oder umgekehrt und wer sich mit wem am Ende ausgesöhnt hat. Möglich ist auch, dass es sich bei den beiden Figuren um Schwestern oder beste Freundinnen handelt, wie im anschließenden Publikumsgespräch Kinder vorschlagen. „Das ist eine der großen Fragen, die wir nie beantworten.“, sagt Bénédicte Mottart. „Es verändert nicht, was du gesehen und gefühlt hast.“

Es bleibt anzumerken, dass dieses Stück nicht zuletzt durch tänzerisches Können und durchdachte Choreografie überzeugt. Bei aller Genauigkeit in der Inszenierung lässt es Raum, den man als Zuseher oder Zuseherin füllen kann. Der Titel „Cortex“ ist ein Wortspiel aus dem fanzösischen cœur, Herz, und Text. Man kommt mit seinem eigenen „Herztext“ in die Vorstellung und überschreibt, was man sieht, mit der eigenen Erinnerung. Das Spiel damit ist in Cortex gelungen.


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