Die Arbeitenden sind die Dummen! oder Ausländer wollen sich nicht an uns anpassen! sind Devisen, wie man sie dutzendmal täglich hört. Sporadisch durchschneiden noch andere Parolen die Stille, Parolen wie Die Alten kosten den Jungen Geld! oder ganz sonderbare Schlachtrufe wie Unsere Kinder werden bedroht! Ständig liegt ein Odeur von Bedrohung in der Luft, eine emotionale Ausdünstung, die klarmachen soll, dass hier irgendwer, jemand der vorzugsweise mit Wir tituliert wird, um seinen Lohn gebracht werden soll.
Alles Skandieren richtet sich gegen ein meist nicht näher genanntes Kollektiv, gegen eine Gemeinschaft, die markig mit Wir bezeichnet wird. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl erwacht: Wir gegen die Arbeitslosen! Wir gegen die Fremden! Wir gegen die Alten! Dieses Wir ist allerdings etwas, was sich schlecht mit soziologischen Begriffen einfangen läßt. Es ist nicht das, was man der Einfachheit halber bürgerliche Mitte nennt - Wir bedeutet auch alles, was über dieser Mitte liegt, jene gesellschaftliche Schicht, die sich als Anführerschicht, als wahre Leistungsträgerschicht versteht. Und innerhalb dieses Wir schlummert auch kleinbürgerlicher Taumel, subsumiert sich alles was sich unterhalb dieser Mitte nicht entblödet, sich selbst zur Mitte zu addieren.
Was sich herauskristallisiert ist eine Schicksalsgemeinschaft, die jedoch nicht immer haarklein definiert ist. Ein Gefühl von Kollektivzugehörigkeit wird entworfen und Leser, Zuhörer, Zuseher werden wie selbstverständlich ins Boot gezogen. Man reiht sie ein in eine Schicksalsgemeinschaft, eine Zweckgemeinschaft, die sich fortwährend entrüstet, die sich andauernd betrogen und verarscht fühlt. Ein chronischer Sinn nach Betrug und Hintergehung nistet sich als narrative Ausgestaltung in die "Öffentlichkeitsarbeit" der Schicksalsgemeinschaft ein. Die Faulpelze sind teuer, die Ausländer frech, die Alten nutzlos und hin und wieder bedroht ein Sexualstraftäter alle Kinder Deutschlands - die Hysterie, die Neurose immer griffbereit. Zusammen fühlt man sich stark, traut man sich gegen dieses schier unabwendbare Schicksal aufzustehen.
Diese nach oben vollständig nach unten leicht geöffnete gesellschaftliche Mitte, sie wird als Hort dauernder Ausbeutung umschrieben. Sie fühlt sich immer benachteiligt, ausgezehrt, unterbuttert, diskriminiert. Allerlei gesellschaftliche Randgruppen wollen sie um den verdienten Lohn bringen. Bevor das divide et impera angeschmissen wird, bedarf es eines Wir-Gefühls, bedarf es eines Ganzen, das teilbar und damit beherrschbar wird. Und diejenigen, die gegen Gruppen aufwiegeln, die schmieden ein solches Wir - und was für eines! Als Gemeinschaft, die das Schicksal zusammengeführt hat, stilisieren sie sie; als Gruppe von Individuen, die vereint sind in ihren vermeintlichen Zielen, Wünschen, Werten, die wie Klone im Geiste wirken.
Und wie verschweißt man eine so heterogene Gruppe? Man impft ihr ein, pausenlos betrogen, verschmäht, übergangen zu sein - man füttert sie mit Entrüstung und Empörung, macht sie hysterisch in ihrer Gier nach Parolen, nach Wir sind die Verarschten!-Slogans, ermuntert sie täglich neu, sich über etwaige Verarscher zu echauffieren. Nur hysterisch empörte Bürger sind lenkbare Bürger. Nur wer den Kopf voller Wut und Erbitterung hat, leidet unter getrübtem Blick. Bloß nicht zur Ruhe kommen, bloß keine Besonnenheit einziehen lassen - schnellschnell die nächste Sau, den nächsten Verarscher durch die Republik gejagt!
Das Schicksal dieser Gemeinschaft läßt sich in der Zeitung nachlesen, im Radio hören, im Fernsehen sehen. Wir sterben aus! Wir überfremden! Wir arbeiten für die Faulen! Wir verhungern, weil wir Alte alimentieren! Wir müssen uns vor entlassenen Straftätern schützen! Wir sind fortwährend bedroht, werden verarscht, ziehen immer den Kürzeren. Wer zu diesem Wir gehört steht außer Frage - jeder darf sich zugehörig wähnen, es ist nicht festgelegt, wer zum großen, verbrüdernden Wir gehören darf. Per definitionem ist es ein nebulöses Schicksal, das verbindet - und die einschlägige Hysterie, der Hass auf Fremde, die Abscheu vor sozialen Unterschichten trägt dazu bei.
Es ist die liebgewonnene Entrüstung, die verschwistert, die eine Schicksalsgemeinschaft erwachen läßt; die Entrüstung, die den sich auskotzenden Angestellten und die empörte Putzfrau bei der morgendlichen Busfahrt zusammenkommen läßt; es ist die Entrüstung, die den optimistischen Arbeitslosen und den geizigen Zeitarbeitsdisponenten, seinen potenziellen Ausbeuter im Wartestand quasi, auf einen gemeinsamen Nenner, einen Nenner des Wetterns, Schimpfens, Erregens, bringt. Das was die Empörer aus Funk und Fernsehen und Print liefern, verbindet, läßt aus dem lose zusammengewürfelten Volk, aus seperaten Gesellschaftsklassen erst eine verschworene Schicksalsgemeinschaft entstehen. Ohne Empörung kein Wir-Gefühl!
Historiker behaupten bisweilen, dass sich der deutsche aber auch der italienische Nationalismus deswegen auf Sprache und Blut, auf rassistischen Nährboden baute, weil er jeweils zu spät ins Leben trat. Es gab vormals keinen deutschen, keinen italienischen Einheitsstaat - eine englische oder französische Einheit bestand aber seit dem Mittelalter. England und Frankreich haben auf der Grundlage ihrer Nationalismen Weltimperien begründet und ebenso Blutbäder bereitet. Aber der rassistische Aspekt, er fehlte weitestgehend - mit Ausnahmen und Sonderfällen freilich. Ihr Nationalstolz baute von jeher auf Tradition, auf den Stolz - aus Mangel an einem treffenderen Begriff sei an dieser Stelle der Stolz bemüht -, Bürger eines funktionierenden Staatswesens zu sein; in einem Gemeinwesen zu leben, das Justiz kennt, Rechtssicherheit, Rechte und Pflichten für jedermann. Auch diese Art von nationalen Selbstbewusstsein hat Menschenleben gekostet; schließlich war man seiner ausgewiesenen, privilegierten Position in der Welt bewusst und entwickelte darauf basierend einen Sendungsauftrag. Gleichwohl, dieser gemeinsame, einheitsstaatliche Stolz konnte Deutschland oder Italien nie ereilen - es gab ihn historisch begründet einfach nicht. Daher die Rückgriffe auf gemeinsames Blut, gemeinsame Sprache, auf Germanentum da, auf Römertum dort - die Schicksalsgemeinschaft war nicht historisch gewachsen, sie wurde von Bismarck da, von Cavour dort gezimmert.
Heute reicht die Empörung als Gründer der Schicksalsgemeinschaft. Nichts verbindet diese Nation so sehr, wie die Abneigung gegen Randgruppen, wie das gemeinsame Gefühl der Verarschung, wie der Umstand, sich gegenseitig zuraunen zu können, wieder mal betrogen worden zu sein. Hysterie vereint die Gesellschaft - nicht der Stolz auf Institutionen, Sozialstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und so weiter. Die werden eher geächtet: das gemeinsame Verarschtsein birgt die Gemeinschaft. Man steht zusammen, weil man scheinbar verarscht wird - das funktioniert sogar klassenübergreifend. Die Empörung ist aber nicht nur heute modern als Klebstoff - sie war es in der letzten deutschen Demokratie auch schon. Sich kollektiv betrogen gefühlt zu haben: das war der Grundstock, auf den ganz besonders empörte Herren in braunen Phantasieuniformen bauten. Auch jene sprachen von Schicksalsgemeinschaft, die aber nicht sie entworfen oder terminologisch ersonnen hatten - sie rauschte in ihrer ganzen Empörung schon seit mehr als einem Jahrzehnt durch den Blätterwald, als man von der großen Verarsche der gesellschaftlichen Mitte berichteten...