Selten ist mir eine Figur von der ersten Seite an völlig unsympathisch. Und selten versinke ich dennoch, trotz aller Ablehnung, vollkommen in eine Geschichte. Mag sein, dass ich etwas spät dran bin mit Die Vegetarierin von der südkoreanischen Autorin Han Kang. Bereits im vergangenen Jahr im Mai erregte sie mit dem Roman Aufsehen, da sie überraschend den Man Booker International Prize in London verliehen bekam. Hätte ich dieses Buch doch früher gelesen.
Die Vegetarierin ist in drei große Abschnitte eingeteilt. In jedem erzählt ein anderer Ich-Erzähler von der Protagonistin Yong-Hye, alle sind aus ihrem familiären Umfeld. Den Anfang macht ihr Ehemann, den ich sofort verabscheue. Der Mann scheut sich Herausforderungen in seinem Leben. Mehr als grauen Alltag will er nicht. Seine Ehefrau Yong-Hye, die für ihn jeden Tag kocht, putzt und wenig spricht und die er als nicht allzu schön beschreibt, kommt ihm für diesen Lebensstil gerade recht.
„Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar. Um ehrlich zu sein, fand ich sie bei unserer ersten Begegnung nicht einmal attraktiv. Mittelgroß, ein Topfschnitt, irgendwo zwischen kurz und lang, gelbliche unreine Haut, Schlupflider und dominante Wangenknochen. So fühlte ich mich weder von ihr angezogen noch abgestoßen und sah daher keinen Grund, sie nicht zu heiraten. Ihr Mangel an Ausstrahlung, ihr fehlender Esprit und Charme, kam mir im Grunde genommen sehr gelegen. Auf diese Weise brauchte ich keine intellektuellen Hochleistungen zu vollbringen, um sie für mich zu gewinnen." (S. 7)
Es ist nicht überraschend, dass der Mann mit Unverständnis, ja, sogar mit Fassungslosigkeit reagiert, als Yong-Hye sich entscheidet, sich fortan vegetarisch zu ernähren. Auch Tierprodukte wie Eier oder Milch verbannt sie aus ihrer Küche. Ihre einzige Erklärung: „Ich hatte einen Traum." (S. 12) Ihr Ehemann respektiert ihre Entscheidung nicht, versucht sie zur Vernunft zu bringen: Wer kein Fleisch isst, passt nicht in die Gesellschaft Südkoreas.
Yong-Hyes Versuch, eigenständig und unabhängig zu sein, endet in einer Familientragödie. Bei einem Treffen mit Eltern, Bruder, Schwester und deren Ehepartner versuchen diese, allen voran der Vater, Yong-Hye zum Fleischessen zu zwingen. Sie verletzt sich daraufhin selbst mit einem Messer, landet erst im Krankenhaus, dann in der Psychiatrie.
Im zweiten Abschnitt erzählt der Mann von Yong-Hyes Schwester. Der Videokünstler ist der einzige, der sich von Yong-Hye inspirieren lässt. Sie beginnen ein Projekt: Er bemalt ihren Körper über und über mit Blumen und filmt sie. Sie fühlt sich wohl, hat das Gefühl, sie könnte sich in eine Pflanze verwandeln. Bis ihre Schwester die Videoaufnahmen und damit die Revolte beider aufdeckt, und den Notarzt ruft. „Ihr braucht ärztliche Hilfe. Alle beide." (S. 123)
Dann kommt die Schwester selbst zu Wort. Auch wenn sie Yong-Hye für den Vorfall hasst, den nur sie in ihren Augen wegen ihres Vegetarismus zu verantworten hat, besucht sie sie regelmäßig in der Psychiatrie. Yong-Hye ist kaum wiederzuerkennen: Sie ist noch dünner geworden, weil sie glaubt, sie braucht überhaupt keine Nahrung mehr. Sie spricht nicht mehr, steht auf ihren Händen, weil sie ein Baum sein möchte.
„,Weißt du, wie ich darauf gekommen bin? In einem Traum! Ich mache einen Kopfstand. Blätter wachsen aus meinem Körper, und meine Hände schlagen Wurzeln. Ich verschmelze mit der Erde, endlos, endlos. [...]" S. 154
All diese erschütternde Ereignisse erzählt Han Kang in einer ruhigen Sprache, als ob ihr alles gerade eingefallen ist und sie es mal eben nebenbei erwähnt. Und dennoch bemerkt man unter der Oberfläche dieser Unaufgeregtheit von Beginn an, dass etwas nicht stimmt, etwas Bedrohliches zu warten scheint. Die Vegetarierin ist ein aufwühlender und bedrückender Roman, der Fragen rund um Freiheit und Identität aufwirft, und ein großartiges Leseerlebnis verspricht.
Han Kang: Die Vegetarierin. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Büchergilde Gutenberg. 190 Seiten. 20 Euro.