Das Leben von Harold Fry ist alles andere als perfekt. In seiner Ehe hat sich nach mehreren Jahrzehnten der Alltagsteufel eingeschlichen und seine Frau Maureen schläft nicht einmal mehr im gleichen Zimmer. Zu sagen haben die beiden sich schon lange nichts mehr. Der gemeinsame Sohn hat sich von Harold distanziert und Freunde hat der 65-Jährige auch kaum- bis auf Queenie, eine alte Arbeitskollegin, die er seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hat.
Eines Tages erreicht ihn ein Brief von Queenie, in dem sie ihm mitteilt, dass sie an Krebs erkrankt ist. Harold gerät tief ins Grübeln und weiß nicht, wie er auf diese Nachricht reagieren soll. Als er ihr einen Brief schicken will, trifft er an einer Tankstelle eine junge Frau, die ihn auf eine völlig andere Idee bringt. Harold macht sich zu Fuß auf die Reise zu Queenie, schreibt ihr Postkarten, dass sie sich mit dem Sterben doch bitte noch etwas Zeit lassen soll, da er auf dem Weg zu ihr ist. Eine Reise durch ganz England beginnt.
Zunächst versteht man nicht ganz, warum Harold sich diese Odyssee antut, für eine Freundin (und nur eine Freundin), die er ewig nicht mehr gesehen hat. Erst nach und nach wird einem klar, dass er somit etwas wieder gut machen will, etwas für das er vor zwanzig Jahren nicht die Kraft und den Mut aufbringen konnte. Natürlich lernt man Harold während seiner Reise besser kennen und erfährt, wie er zu dem Mann geworden ist, der er nun ist.
Er wirkt eingeschüchtert, verängstigt und fast schon mutlos und dies nicht erst durch den Brief von Queenie. Harold wird als extrem weltfremd dargestellt, als ein Mann, der in jeder entscheidenden Situation seines Lebens gekniffen hat und man merkt ihm deutlich an, wie er ständig von Maureen in die Ecke gedrängt wird. Aber er ist auch sehr selbstkritisch und blickt auf die vielen Momente in seinem Leben zurück, in denen er sich nun wünscht anders gehandelt zu haben. Oder überhaupt gehandelt zu haben.
Das Buch wird getragen von den Momenten, in denen Harold nicht nur die Füße sondern auch das Herz schwer wird. Die Szenen, in denen er an seine eigene Kindheit zurückdenkt, waren da für mich besonders eindringlich, da dies Momente waren, in denen er gar nicht handeln konnte.
Das Buch vermittelt eine ganz wichtige Botschaft, nämlich dass jeder Mensch etwas braucht, an dem er sich festhalten kann. Eine Hoffnung, die verhindert dass man aufgibt. Dabei hat mir persönlich besonders gut gefallen, dass das Buch trotz des Titels „Pilgerreise“ absolut nichts mit Religion zu tun hat. Die Überzeugung für diese Reise ist bei Harold eine völlig andere.
Maureen nervt und zwar gewaltig. Man will ihr förmlich an den Kopf werfen, dass sie alles andere als unschuldig an der Situation ist, in der ihre Ehe steckt und dass ihr Verhalten unmöglich ist. Aber irgendwann braucht man das gar nicht mehr zu tun. Maureen erkennt es von ganz alleine und auch für sie selbst beginnt eine unwahrscheinliche Pilgerreise.
Das Buch ist keine leichte Lektüre, denn man wird völlig gleich ob 16 oder 60 Jahre alt dazu gebracht, sich mit dem eigenen Leben auseinander zu setzen. Man fragt sich, was habe ich getan, was habe ich noch vor und was hätte ich besser anders gemacht. Ist es schon zu spät oder kann ich es noch ändern? Was ist mir wirklich wichtig?
Der Sprachstil hat mich oft überrascht. Das Buch liest sich leicht und flüssig und trotzdem tauchen immer wieder einzelne Sätze auf, die man drei, vier Mal lesen möchte um sie richtig wirken zu lassen. Einige Passagen kommen dem Kitsch gefährlich nahe, aber Rachel Joyce bekommt jedes Mal noch rechtzeitig die Kurve.
Der Grund für die zwei Sterne Abzug liegt an den Weggefährten, die Harold auf seiner Reise trifft. Eine Person wird skurriler als die andere beschrieben und sie ziehen die Story durch ihre letzten Endes unbedeutenden Geschichten mächtig in die Länge. Man erkennt den Sinn hinter diesen Begegnungen, die Harold da macht und dennoch sind es in der Anzahl und auch in der Ausarbeitung zu viele schwere Schicksale, die alle durch eine eigene Figur verkörpert werden.
Manche sollen Harold Mut machen, andere sollen ihn vom Weg abbringen. Mich brachten sie jedoch vor allem sehr oft vom Weiterlesen ab, denn was da mühevoll seitenlang erzählt wird, ist für die eigentliche Story schlussendlich bedeutungslos. Dass diese Reise an einige Stellen etwas unrealistisch geschrieben ist, hat mich dagegen weniger gestört. Schließlich ist es eine „unwahrscheinliche“ Pilgerreise und da sehe ich über kleinere Logikfehler gerne hinweg.
Solange ich gehe, muss sie leben.