Die unsichtbare Nabelschnur

Im Grunde genommen sollten Glucken wie ich eigentlich gar keine Kinder bekommen. Denn gluckenhafte Mütter sind nur glücklich, wenn sie zu jedem Zeitpunkt ganz genau wissen, wo sich ihre Kinder befinden, am glücklichsten sind sie, wenn sich alle Kinder in greifbarer Nähe befinden und am liebsten würden sie die unsichtbare Nabelschnur niemals durchtrennen. Kinder dagegen haben vom Moment der Geburt an nichts Eiligeres zu tun, als diese unsichtbare Nabelschnur zuerst immer weiter zu dehnen und schließlich ganz zu zerreißen. Jeder Entwicklungsschritt ist ein Schritt in Richtung Unabhängigkeit.
Mit größeren Kindern kommt immer mehr Unabhängigkeit und die richtige Balance zwischen meiner inneren Glucke und meiner Vernunftsmutter, die sich über selbstbewusste und selbstständige Kinder freut, zu finden, fällt mir nicht immer leicht. Diese Woche hatten wir so einen Fall: Der kleine Autofanatiker hatte abends zwischen 19 und 20 Uhr ein Theaterstück in der Schule. Und er wollte unbedingt allein hinlaufen. Die Vernunftsmutter in mir meinte "Prima! Noch vor ein paar Monaten hätte er sich das nicht selbst zugetraut, da wäre er noch nicht mal allein auf die Jungstoilette gegangen.", die Gluckenmutter in mir mahnte "Aber was ist, wenn ihm was passiert??? Er ist doch noch so klein und arglos. Und dann auch noch abends!"
Nun muss man dazu wissen, dass wir ungefähr 150 Meter entfernt von der Schule wohnen. Eine Straße gibt es bis dahin nicht zu überqueren und seit der Sommerzeit ist es auch um 20 Uhr noch taghell. Viel zu überlegen gibt es da eigentlich nicht. Trotzdem war mir bei dem Gedanken, mein (nicht mehr ganz so) kleines Kind allein abends loszuschicken nicht wohl. Ist das eigentlich legal oder verletzt man dabei die Aufsichtspflicht? Die Antwort auf diese Frage weiß ich zwar immer noch nicht, aber am Ende habe ich es mit seiner Klassenlehrerin besprochen. Und sie hat einen Kompromiss vorgeschlagen, der Glucken- und Vernunftsmutter gleichermaßen befriedigt hat. Denn sie hat mir einfach ihre Handynummer gegeben. Als der kleine Autofanatiker das Haus verließ, schickte ich ihr eine SMS. Drei Minuten schrieb sie zurück "Er ist angekommen." Für den Rückweg bat ich eine Nachbarin, die ein gleichaltriges Kind hat, ein Auge auf ihn zu werfen. Ganz stolz war er kurz nach 8 wieder daheim. An diesem Tag haben wir beide etwas Wichtiges gelernt.
Als die allergrößte Glucke entpuppte sich allerdings überraschenderweise der große Autofanatiker. Nur mit Mühe konnte ich ihn davon abhalten, kurz nach dem kleinen Autofanatiker das Haus zu verlassen, um ihm ganz unauffällig zu folgen. Wer hätte das gedacht!

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