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Wenn ich zB. in Fortbildungen versuche, „Nichtjuristen“ zu erklären, was Rechtswissenschaft eigentlich ist, dann ziehe ich gerne einen Vergleich zum Erlernen einer Sprache: man braucht Vokabeln, um die Sprache überhaupt sprechen zu können, und man braucht eine Grammatik, damit aus den einzelnen Vokabeln auch tatsächlich eine verständliche Sprache wird – und man braucht noch ein Verständnis, sowohl für das einzelne Wort als auch für den zusammenhängenden Satz.
So ähnlich ist es auch bei der Anwendung des Rechts: eine einzelne Norm, ein einzelner Rechtsbegriff muss in einen Kontext gestellt werden, und dieser Kontext muss dann auch noch verstanden werden.
Doch nun leben wir ja – leider (?) – im Zeitalter von Google und der Amerikanisierung unseres Rechtssystems; so jeder Jurist den Schmerz, der einen überfällt, wenn man einen rechtlichen Zusammenhang aufgeklärt und verständlich aufbereitet hat, und dann vom Gegenüber neben Unverständnis für die schwierige Rechtslage (und sei sie noch so einfach) die Frage nach dem „Präzedenzfall“ kommt, den es aber nun einmal nicht gibt, auch wenn einem das amerikanische TV-Serien und Spielfilme immer wieder vorgaukeln.
Natürlich – um falschen Interpretationen vorzubeugen – gibt es für so gut wie jede Fallkonstellation Entscheidungen von Gerichten, die (Teil-)Aspekte des gerade aktuellen Sachverhalts erfassen und mehr oder weniger Vorgaben/Arbeitsanweisungen liefern, wie man den Sachverhalt juristisch auflösen kann. Aber auch bzgl. dieser Entscheidungen gilt dasselbe wie für die Anwendung des Gesetzes: man kann sie nicht einfach blind übernehmen, sondern man muss sie in einen wertenden Zusammenhang stellen. Juristen nennen das Subsumption, aber eigentlich ist es nichts Anderes, als einen theoretisch dargestellten Tatbestand auf den konkreten Lebenssachverhalt anzuwenden und daraus den juristisch richtigen Schluss zu ziehen. Und das ist nun einmal einzelfallbezogen, und das Leben ist nun einmal (Gott sei Dank!) so bunt, dass es nie denselben Sachverhalt genau gleich ein zweites Mal hergibt.
Noch schlimmer ist allerdings das zusammengegoogelte „Fachwissen“, welches einem immer wieder begegnet (auch andere Professionen können ein Lied davon singen, zB. der Arzt, dessen Patienten mit den selbst gegoogelten Diagnosen erscheinen, oder die Handwerker, denen die Baumarkt „Do-it-yurself“-Anleitung aus dem Internet präsentiert wird: da geben (durchaus nicht nur juristisch unerfahrene) Menschen von ihnen selbst als „Lösungsworte“ verstandene Begriffe in eine Suchmaschine ein und glauben dann, mit den dort gefundenen „Treffern“ der juristischen Lösung nahe gekommen zu sein. Natürlich vergessen sie, dass Google und Co. nicht qualitativ, sondern quantativ vorgehen, ebenso vergessen sie, dass nicht unbedingt der erste „Hit“ der beste (und schon gar nicht der richtige) ist, und deswegen ist das „Ergebnis“ dann meistens ziemlicher Quatsch; aber trotzdem wird er – gerne auch in Internetforen als „hilfreicher“ Hinweis für Andere – gebetsmühlenhaft als die Wahrheit verkauft.
Manches solches Pseudowissen ist ja leicht zu erkennen: da ist zB. mein persönlicher Schatten samt dem auf dem Fusse folgenden Unkräutchen (haben Sie schon mal versucht, Gänseblümchen aus ihrem Rasen zu bekommen…) und der alpenländischen Allwissenheit („Na, komm, wer hat es erfunden…?“): bei solchen „Internetweisen“ geht es ja schon auf der untersten Ebene drunter und drüber: da wird dann gerne mal die „Rechtmässigkeit“ zur „Rechtsmässigkeit“, als käme sie nicht von Recht; nun, zugegeben, das ist aber auch schwer, denn immerhin gibt es ja auch die „Rechtswidrigkeit“, und die kommt trotzdem nicht von rechts und hätte damit Vorfahrt.
Aber die tiefgreifenden Missverständnisse beim ergoogelten Wissen gehen noch weiter: da wird dann gerne mal der „Anfangsverdacht“ als ausreichend angesehen für den Erlass eines Haftbefehls, wahrscheinlich, weil man zwischen Anfangsverdacht, hinreichendem Tatverdacht und dringendem Tatverdacht nicht so recht unterscheiden kann – und es im übrigen auch egal ist, Hauptsache, es stützt die eigene Meinung, die Meinung, die man dann mit möglichst viel Enthusiasmus und wortgewaltig unter das mutmasslich beeindruckte Internetvolk wirft.
Nun muss man zur Ehrenrettung dieser virtuelle Stilblümchen allerdings sagen, dass sie nicht nur in der Rechtswissenschaft (schon wieder ein Wort mit diesem verflixten „s“ an der falschen Stelle…) dilettieren, Nein, sie sind auch Fachwesen für Medizin, Psychologie, Psychotherapie und Familienberatung, aber auch in kirchlichen Fragen ungeheuer bewandert und haben natürlich eine dezidierte Meinung zu Alles und Jedem – einschliesslich pointierte Auffassungen zu Ausländerfragen – und sie lesen alle Bücher immer „in der Originalsprache“. Letzteres tröstet mich ein Stück, denn dies hat bei der dann zitierten ausländischen Literatur den unübersehbaren Vorteil, dass man auf den ersten Blick erkennt, dass die selbst ernannten Internetforenheiligen den Inhalt genau so wenig verstanden haben wie den der deutschen Übersetzungen.
Aber trotzdem, wenn man schon mal so richtig seine ergoogelte Bildung dargestellt hat, dann geht man gerne noch ein Schnittchen weiter: Und so wird dann Ferntherapie betrieben und Personen nach Lektüre von BILD-Artikeln eine psychische Störung angedichtet, Rechtsanwälte werden diverse Fehler nachgesagt und die abenteuerlichsten Rechtsauffassungen (hui, schon wieder, sie wissen schon…) breitgetreten.
Gut, all das hat ja eher einen putzigen Charakter und erinnert ein wenig an bestimmte Auftritte in einschlägigen Fernsehshows wie zB. „DSDS“, doch leider überschreitet es genauso wie die angesprochenen TV-Auftritte regelmässig die Grenzen des guten Geschmacks und ist sicherlich insbesondere für die von diesen absonderlichen Psychoanalysen betroffenen Personen wenig lustig.
Schlimmer wird es allerdings dann, wenn dahinter noch eine bedenkliche Gesinnung zu erkennen ist: Ein bezeichnendes Beispiel ist ein neuer Ausdruck, für den anscheinend ein mutmasslicher Assessor juris Urheberrechte geltend machen kann: „Rechtsdrohung“. Das klingt ja echt wichtig, nur ist es das weniger, doch lässt es einen bei näherem Betrachten aufhorchen: unser nach seinen eigenen Behauptungen im Recht (ohne „s“ bitte!) bewanderter Internet-Zeitgenosse meint damit nämlich die Aufforderung, bestimmte Äusserungen im Internet zu unterlassen, da ansonsten Sanktionen drohen würden.
Wenn man sich unter diesem Gesichtspunkt mit „Rechtsdrohung“ (wenn man es googelt, dann verweist einen die Suchmaschine übrigens immer auf „Rechtsdrehung“, aber dies nur ganz am Rande!) inhaltlich beschäftigt, dann meint das Wort also, es werde „mit dem Recht gedroht“ – nun, eine interessante Auffassung, denn unwillkürlich stellt sich doch die Frage, wem kann „mit Recht“ eben „mit dem Recht“ gedroht werden? Richtig, wohl kaum demjenigen, der sich rechtmässig (ohne „s“) verhält, sondern nur demjenigen, der vor „dem Recht“ zurückweichen müsste.
Und da fällt nur einer ein: nämlich derjenige, der sich „rechtswidrig“ (bitte das „s“ beachten) verhalten… mutmasslich natürlich.
Aber doch wenigstens unter den „Fachleuten“ wird doch wohl die Sprache und die Grammatik des Rechts mehr oder weniger umfänglich angekommen sein, oder? Doch je länger ich meinen Beruf ausübe, desto mehr Beispiele finde ich, dass auch unter Juristen eine ähnliche Entwicklung einsetzt wie wir sie im Bereich der deutschen Sprache schon lange beobachten: so eine Art „Ich weiss, wo Dein Haus wohnt!“-Umformung der Rechtsanwendung.
Der Kollege Rechtsanwalt Christoph Nebgen, Hamburg, beschreibt die Phänomen sehr plastisch, wenn er sich in einem Blogbeitrag unter der Überschrift “Von wegen Unschuldsvermutung“ mit derselben (auch mit „s“ übrigens, aber ganz ohne „Recht“) beschäftigt: Klick!
Drei Zeugen haben in seinem Fall einen angeblichen Schläger erkannt, die Staatsanwalt hat ihnen geglaubt und neben dem Anfangsverdacht auch den hinreichenden Tatverdacht bejaht – und dabei übersehen, dass der nun hochnotpeinlich Angeklagte zum Zeitpunkt der angeblich von ihm begangenen Tat einen Gipsarm gehabt haben muss, denn dieser Umstand konnte zweifelsfrei bewiesen werden. Gut also, wer zum richtigen Zeitpunkt einen Armbruch hatte und sich nicht darauf verlassen muss, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte tatsächlich wissen, was die Unschuldsvermutung ist und wie man sie konkret anwendet.
Bleiben wir doch mal bei diesem Rechtsbegriff, denn auch mich umtreibt derzeit das Thema „Unschuldsvermutung“, denn immer noch warte ich auf die Veröffentlichung der schriftlichen Urteilsbegründung im Fall Kachelmann und des Beschlusses des Oberlandesgerichts Karlsruhe anlässlich der Freilassung des inzwischen rechtskräftig freigesprochenen Wetterexperten.
Nach dem dortigen Gerichtsverfahren geht ja insbesondere in einigen Internetforen die üble Nachverurteilung des Wettermoderators „fröhlich“ weiter. Bezeichnend für dieses unsäglich dumme, aber leider nicht ausrottbare Geschreibsel ist folgende Formulierung:
„Freispruch mangels Beweisen, bedeutet nicht, dass eine Tat nicht doch geschehen sein kann. Sie darf dem Angeklagten nur nicht angelastet werden.“ (Sie können sich schon denken, wer so etwas sinn- und wissensfrei in die virtuelle Welt gepustet hat…)
Mal abgesehen davon, dass das Gesetz diese Unterscheidung eines Freispruchs in verschiedene Kategorien oder Klassen gar nicht kennt, stellt sich doch die Frage, was so ein Satz soll. Juristisch gibt es nach einem Freispruch keine Tat, folglich gibt es auch keinen Täter und kein Opfer – wenn man dann nicht den Freigesprochenen als Opfer sehen mag, wahlweise ein Opfer des Justizsystems wie im Fall des Kollegen Nebgen oder aber mutmasslich ein Opfer einer Falschbeschuldigung wie im Fall Jörg Kachelmann.
Aber in Letzterem war es natürlich der Vorsitzende der das urteil sprechenden Kammer des Landgerichts Mannheim, Herr VRiLG Siedlung, der mit seiner unsäglichen mündlichen Urteilsbegründung diese Diskussion erst so richtig befeuert hat:
„Der heutige Freispruch beruht nicht darauf, dass die Kammer von der Unschuld von Herrn Kachelmann und damit im Gegenzug von einer Falschbeschuldigung der Nebenklägerin überzeugt ist. Es bestehen aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme begründete Zweifel an der Schuld von Herrn Kachelmann. Er war deshalb nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ freizusprechen.“
Was für eine Aussage: Das Gericht hat den Angeklagten freigesprochen, und zwar deswegen, weil ihm die Tat nicht nachzuweisen war. Punkt, Herr Vorsitzender! Aber Nein:
„Wir entlassen den Angeklagten und die Nebenklägerin mit einem möglicherweise nie mehr aus der Welt zu schaffenden Verdacht, ihn als potentiellen Vergewaltiger, sie als potentielle rachsüchtige Lügnerin. Wir entlassen den Angeklagten und die Nebenklägerin aber auch mit dem Gefühl, ihren jeweiligen Interessen durch unser Urteil nicht ausreichend gerecht geworden zu sein.“
Im Gegenteil, Herr RiLG Seidling: Ihr Gericht hat den Angeklagten freigesprochen, damit gilt er als unschuldig und ist eben kein potentieller Vergewaltiger – zu einem solchen wird er erst durch Sie und durch Ihre Aussage sowie deren Zitat in der Öffentlichkeit. Und bzgl. der Nebenklägerin gilt: sie ist eine mutmassliche Falschbeschuldigerin, so, wie Herr Kachelmann bis zur Rechtskraft des Urteils ein mutmasslicher Täter war – und es jetzt nicht mehr ist.
„Bedenken Sie, wenn Sie künftig über den Fall reden oder berichten, dass Herr Kachelmann möglicherweise die Tat nicht begangen hat und deshalb zu Unrecht als Rechtsbrecher vor Gericht stand. Bedenken Sie aber auch umgekehrt, dass Frau X. möglicherweise Opfer einer schweren Straftat war. „
Das ist schon starker Tobak, der sich hier in einer offiziellen Presseerklärung eines Gerichts befindet – hier erklärt ein Richter nach einem freisprechenden Urteil, die Anzeigeerstatterin könne „möglicherweise“ das Opfer einer Straftat sein – und führt damit sein eigenes Urteil ad absurdum. Und da hilft es dann auch nichts, wenn er hinterher versucht, zu retten, was nicht mehr zu retten ist:
„Versuchen Sie, sich künftig weniger von Emotionen leiten zu lassen. Unterstellen Sie die jeweils günstigste Variante für Herrn Kachelmann und Frau X. und führen Sie sich dann vor Augen, was beide möglicherweise durchlitten haben.
Nur dann haben Sie den Grundsatz „in dubio pro reo“ verstanden. Nur dann kennt der Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht nur Verlierer, sondern neben dem Rechtsstaat auch Gewinner.“
Eigentlich ist es bitter, wenn ein Gericht so den Fokus seiner Aufgabe verliert: die Beschäftigung und Prüfung eines Sachverhalts und das Fällen eines Urteils unter Anwendung des Rechts. Und nach einem freisprechenden Urteil hat niemand mehr günstige oder ungünstige Varianten zu unterstellen, sondern einzig und allein den Umstand, dass der ehemals Angeklagte nunmehr vom Vorwurf der Straftat freigesprochen ist. Und ein Vorsitzender, der in seiner mündlichen Begründung einen soeben Freigesprochenen als mutmasslichen Straftäter bezeichnet – der sollte vorsichtig sein mit der Aussage, er habe den Grundsatz „in dubio pro reo“ verstanden und könne ihn Anderen erklären.
Und das Schlimme ist, dass solche Äusserungen eines Gerichts nun natürlich dazu dienen, einen rechtskräftig Freigesprochenen weiterhin mit Häme zu begegnen – besonders deswegen, weil sie erkennbar dem Zweck dienten, ihm die Möglichkeit zu verstellen, Genugtuung erlangen zu können; denn das, was das Gericht unterschwellig beklagt, und was in den Medien und im Internet offen problematisiert wird, nämlich die Schwierigkeit des mutmasslichen Opfers einer angeblichen Vergewaltigung, diese in einem Strafprozess beweisen zu können, trifft doch Jörg Kachelmann genau so: er hat trotz des unstreitigen Sachverhalts, dass die Anzeigeerstatterin in seinem Verfahren mehrfach massiv und nachhaltig gelogen hat, trotz des Umstandes, dass Sachverständige die Aussage der Zeugin und den Beweiswert der anderen angeblichen Beweisstücke für weitgehend unbrauchbar erklärt haben, natürlich ebenfalls das Problem, dass er eine Falschaussage der Nebenklägerin beweisen muss – und das bei einer mündlichen Urteilsbegründung des ihn freisprechenden Gerichts, die ihn weiter zum mutmasslichen Täter macht – und einer Staatsanwaltschaft, die die tatsächlichen Rechtsauffassungen des Landgerichts Mannheim und des Oberlandesgerichts Karlsruhe im Tresor einmauert.
Mit Verlaub, wenn man sich dies Alles so betrachtet – und dabei bedenkt, wie schnell man in eine so missliche Situation wie der Mandant des Kollegen Nebgen oder wie Herr Jörg Kachelmann geraten kann – dann bekommt der an sich schon genügend bedenkliche Begriff der „Rechtsdrohung“ in unserem „Rechtsstaat“ (mit ganz vielen „s“) eine noch viel bedenklichere Bedeutung.