Ist es möglich, ein Kompendium des Lebens auf die Bühne zu bringen, in dem ganz unterschiedliche Aspekte unseres Seins abgedeckt werden? Ist es möglich, eine evolutionsbiologische Entwicklung des menschlichen Geschlechtes zu zeigen, in der Spiritualität und Kunst auch eine Rolle spielen? Kann man heute auf der Bühne noch tanzen, ohne dass man sich dem Vorwurf eines Eklektizismus aussetzen muss?
Alain Platel, der international gefeierte, mittlerweile 57-jährige, belgische Choreograf und Regisseur kann es. Mit seiner 1984 gegründeten Tanzcompagnie „Les Ballets C de la B“ riss er im Volkstheater auf Einladung des Tanzquartiers das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin.
Ein großer Spannungsbogen und tote Pferde
In einem furiosen Ablauf, in dem es nur wenige, dafür aber umso intensivere, stille Momente gibt, spannt er den Bogen vom Menschen, der für seine Gattung die größte Gefahr darstellt, hin zu einem Wesen, das sich an Musik und Tanz erfreuen und seinen Mitmenschen empathisch und liebend gegenüberstehen kann. Dass seine Idee so großartig aufgeht, verdankt er dem Gesamtpaket des Abends. Seiner Regie, dem Bühnenbild von Berlinde De Bruyckere, der musikalischen Leitung von Steven Prengels, sowie der Performance seines Ensembles, das maßgeblich für die Choreografie verantwortlich ist. Es ist dieses Gesamtpaket, das so unglaublich beeindruckt.
De Buyckere steuerte mit dem Setting – einem zerfetzten, mit Löchern versehenen Vorhang, der die linke Seite sowie die Rückwand begrenzt – und übereinanderliegenden, ausgestopften Pferdeleibern, eine Atmosphäre bei, die dem Treiben auf der Bühne von Beginn bis zum Schluss seinen dominanten Akkord beisteuerte. Der Tod, das Unumstößliche mit dem sich alle Lebewesen konfrontiert sehen, bleibt so bei allem Treiben, und mag es noch so ausgelassen oder bedrohlich sein, jener Fixpunkt, der nicht wegdiskutiert werden kann und der immer und überall allgegenwärtig ist. Das tote Pferd ist ein Hauptmotiv im Werk der Künstlerin, das im Vorjahr in einer kleinen Schau im Leopoldmuseum gewürdigt wurde. Auf lange Strecken dient der aus Tierleibern gestapelte Altar auch als Kontemplationszentrum, als Ort der Verinnerlichung, des Anbetens und der Trauer.
Das 9-köpfige Ensemble, acht Männer und eine Frau, ist nicht nur tanzend gefordert. Es wird auch auf hohem Niveau wie zum Beispiel eine Bachkantate gesungen – und ab und zu – wenn auch bewusst unverständlich – miteinander gesprochen. Es werden Grimassen geschnitten und das Publikum ins Geschehen miteinbezogen. Der Bühnengraben ist dazu da, überwunden zu werden und gleich zu Beginn fliegen die Fetzen im wahrsten Sinne des Wortes in die ersten Zuschauerreihen. Der Phantasie, der Kreativität und der Lebendigkeit dieser Truppe scheinen keine Grenzen gesetzt.
Des Widerspenstigen Zähmung
Sich gegenseitig bis aufs nackte Fleisch zu bekämpfen, Angst voreinander haben, sich in einem langen Prozess finden, Vertrauen aufzubauen, das ist eines der Hauptmotive dieses Abends. Dafür fallen die Tanzenden übereinander her, reißen an ihrer Bekleidung, zerfetzen sie und legen sichtbare Gewalt aneinander an. Es gilt das Recht des oder der Stärkeren, uneingeschränkt, ohne Schonung.
Genauso atemberaubend wie dieser Auftakt ist eine Szene, in welcher es um die Zähmung eines wilden Tieres geht. Eines Tieres in Gestalt eines jungen Mannes, womit im übertragenen Sinn auch jener Vorgang sichtbar gemacht wird, dem sich die Menschen unterziehen müssen, um als gesellschaftsfähige Wesen miteinander leben zu können. Wie sich dabei immer und immer wieder das körperliche Aufbegehren, der Trieb, sich zu behaupten, eruptiv seine Bahn bricht, ist hart an der Grenze des noch erträglich zu Schauenden. Wie letztlich aber der Wille gebrochen wird, mit einem ständigen Aufeinanderprallen, einem körperlichen Unterdrücken, Festhalten, Ziehen und Zerren, wie hier Gewalt als Mittel der Unterwerfung eingesetzt und sichtbar gemacht wird, ist zutiefst erschütternd. Diese Bilder, diese Aktionen rauben einem den Atem, machen betroffen, traurig, auch dann noch, wenn sich die bis dahin still verhaltende Horde auf der Bühne letztlich zusammenrottet, um den geschundenen, am Boden liegenden Körper liebevoll aufzunehmen. Und sich im Handumdrehen um ihn zu streiten. Alles auf der Welt hat zwei Seiten, scheint Platel immer und immer wieder aufzeigen zu wollen, wobei dieses Aufzeigen nicht aufgesetzt wirkt. Der Fuß, den der Sieger dem Besiegten in seine eigene Unterhose einklemmt, diese so absurde Geste, die manche im Publikum zum Lachen anregt, in dieser Geste steckt komprimiert das Grauen und die Brutalität dieser Zähmung.
Musik als universelle Sprache
Im krassen Gegensatz dazu stehen Szenen, in welchen die Menschen sich direkt auf die Musik beziehen. Steven Prengels ist es gelungen, aus Versatzstücken unterschiedlicher Mahler-Symphonien und Mahler-Liedern einen Klangraum zu bauen, dessen Stimmung sich innerhalb weniger Augenblicke ändern kann. Boule Mpanya und Russell Tshiebua, die beiden kongolesischen Tänzer, steuern afrikanische Songs bei, die sich im Verlauf des Geschehens schließlich durch die Kunst von Prengels in schier genialer Weise mit Mahlers Musik verschränken. Der Moment, in dem sich Mpanya und Tshiebua mit ihrem Tanz und Gesang in das Mahler´sche, symphonische Konstrukt einschieben, ist ein Schlüsselmoment.
Die Kraft, die Trauer, das Erhabene, all das, was die westliche Welt glaubt, in ihrer Musik einzigartig und unerreicht ausgebildet zu haben, sodass es die Menschen in ihrem Innersten berühren muss, all das konterkarieren hier zwei Menschen aus Afrika. Mpanya und Tshiebua zeigen, was Musik noch kann: Pure Lebenslust verströmen. Die Universalität der Musik, so oft zitiert und gerühmt, hier wird sie in beeindruckender Weise sichtbar, hörbar und spürbar.
Ein Querschnitt durch die Tanzgeschichte
Tänzerisch ist an diesem Abend so ziemlich alles zu sehen, was es auf den Bühnen unserer Welt heute zu sehen gibt. Zeitgenössisches mit ganz persönlichen Bewegungsmustern aber auch gleichgeschalteten Ensemblechoreografien, Reminiszenzen an das klassische Ballett, afrikanische Tanzkultur, aber auch jede Menge an Contact dance zwischen zwei, drei oder auch allen Tanzenden. Alleine diese Vielfalt zu beschreiben würde einen eigenen Artikel füllen. Genauso wenn man die vielfältigen musikalischen Beziehungen analysieren wollte, die, Stück für Stück, ganze Interpretationskosmen eröffnen.
Mit der Idee zu „nicht schlafen“ zeigt sich Alain Platel als Leuchtgestirn am Tanzhimmel, als denkender und fühlender Regisseur gleichermaßen. Als Gigant, dem selbst das pure Leben keinen Schrecken einjagt, wenn es darum geht, es auf der Bühne in eine vermittelbare Form zu gießen. Platel ist ein radikaler Realitätspoet, ein Aufzeiger und kein Zudecker. Aber selbst wenn er das Unvermögen des menschlichen Geschlechts aufzeigt, die tierischsten Begierden, die unaussprechlichsten Grausamkeiten, so tut er es dennoch immer mit einem großen, spürbaren Herz für das Wunder Leben, das sich jeder Erklärung letztlich entzieht. Ein ganz großer Abend.