Die Frage, ob die Türkei der EU beitreten soll, wird bereits seit langer Zeit diskutiert. Aber gehört die Türkei überhaupt zur EU? Ist das überhaupt wichtig? Die kurze Geschichte einer stürmischen Beziehung, die einfach nicht richtig zu klappen scheint.
Als die Türken 1683 vor den Toren Wiens standen, bedrohten sie das gesamte christliche Abendland. Obwohl in hunderte Königreiche und Republiken geteilt, herrschte in ganz Europa einhellige Meinung: Die Türken müssen zurückgeschlagen werden!
Heute, mehr als drei Jahrhunderte später, ist viel auf dem europäischen Kontinent geschehen. Dank des Sieges gegen die osmanischen Truppen blieb Europa christlich. Glaube und christliche Traditionen bilden heute noch das Wertefundament der europäischen Nationalstaaten. Heute wollen die Türken wieder nach Europa, aber auf dem friedlichen Weg. Sie wollen Mitglied der Europäischen Union werden, obwohl sie ja gar nicht zu Europa gehören. Oder ist die Türkei etwa europäischer, als wir denken?
Die Geschichte einer Annäherung
Das Ankara-Abkommen von 1964, in dem die Türkei ein assoziierter Staat der EU wurde, bedeutete eine erste konkrete Annäherung an Europa und ihr supranationales Gebilde. In den folgenden Jahrzehnten erlebte der Prozess der EU-Türkei-Beziehungen etliche Höhen und Tiefen – vom Abbruch gemeinschaftlicher Verhandlungen bis zum Beitritt der Türkei in die Zollunion 1996 als erster Nicht-Mitgliedsstaat der EU.
Ende der 1990er Jahre wurde der Antrag der ehemaligen Regierung Özul von 1987 bestätigt und die Türkei wurde Beitrittskandidat der EU. Dadurch rückte sie näher an die Union und an ihre institutionellen Werte, was 2005 die Aufnahme offizieller Beitrittsverhandlungen ermöglichte. Doch die EU verschärfte die Bedingungen für den Beitritt. Nach den Erfahrungen der EU-Osterweiterung galt seitdem der Grundsatz der Aufnahmefähigkeit der EU. Nun musste die Türkei nicht nur die umfangreichen Kopenhagener Kriterien erfüllen, sondern auch die EU davon überzeugen, dass sie mit einem Beitritt das Gleichgewicht der EU nicht stören würden. Auf der anderen Seite hatten somit türkeiskeptische EU-Staaten, wie Österreich oder Frankreich, ein Mittel gefunden, um den Beitrittsprozess hinauszuzögern.
Die ewige Frage: Wie europäisch ist die Türkei?
Debatten über den Beitritt der Türkei werden oft sehr emotional geführt und tatsächlich zieht die Türkei-Frage einige vorausgesetzte Grundsätze der Europäischen Union in Zweifel. Gegner des Beitritts versuchten, sich daher immer wieder von der Türkei abzugrenzen. Doch die Suche nach solchen Grenzen ist komplexer, als man annehmen könnte.
Als vorderstes Argument wurden des Öfteren die aus der Geschichte entstandenen gesellschaftlichen Unterschiede zwischen der Türkei und Europa genannt. Die Entwicklung der islamisch geprägten Gesellschaft ist abgekoppelt von der Aufklärung im 19. Jahrhundert. Gerade dies sei notwendig, um den Europäischen Gedanken umzusetzen und zu leben. Beim Ziehen dieser historisch-kulturellen Grenze übersieht man, dass sich die Türkei schon seit einigen Jahrzehnten europäischer Ideen bedient. 1923 rief Atatürk die Republik aus, es folgten tiefgreifende Reformen, wie die Abschaffung der Scharia oder die Säkularisierung. Das Zivilrecht kam aus der Schweiz, das Handelsrecht war deutsch und beim Strafrecht bediente man sich italienischer Erfahrungen.
Weiterhin wird angeführt, dass die Türkei nicht in dem kulturellen Raum Europas untergebracht werden kann. Zu groß seien die Unterschiede in religiösen, traditionellen Fragen, um innerhalb einer Gemeinschaft auf einen Nenner zu kommen. Doch bereits innerhalb der europäischen Staaten lässt sich nur schwerlich ein gemeinsamer Kulturraum definieren. Europa selbst ist eher eine Ansammlung zahlreicher Kulturen mit germanischen, romanischen, keltischen, baltischen und slawischen Ursprüngen.
Außerdem gab es schon in früherer Vergangenheit kulturelle Vermischungen Europas mit der Türkei. Zum Beispiel gründete der Missionar Paulus viele frühchristlichen Gemeinden im Gebiet der heutigen Türkei oder lebten viele Türken auf der zu Europa gehörenden Balkan-Halbinsel.
Die Grenzen sind verwaschen
Erkennt man, dass sowohl die historisch-politische als auch die kulturelle Grenzziehung nur wenig scharf sein können, so scheint doch wenigstens die naturwissenschaftlich bestimmbare geographische Grenze eindeutig und unanfechtbar. Der Bosporus und die Dardanellen trennen Asien und Europa, die Türkei von der EU. Letztlich bleibt aber auch diese eine imaginäre Linie, die in der Wissenschaft umstritten ist; in der Geschichte oft instrumentalisiert und willkürlich gezogen wurde. Die naturwissenschaftliche Einheit bleibt der Kontinent Eurasien.
Grenzen dienen offensichtlich nur als sehr ungenaues Mittel zur Entscheidung über einen Beitritt der Türkei. Die Debatte darüber wird anhalten und ist fruchtbar, wenn sie ehrlich und sachlich geführt wird. Dazu ist auch zu berücksichtigen, welche Auswirkungen der Beitritt hätte und ob die EU in der Lage ist, mit solchen Veränderungen umzugehen.
Ein strategischer Partner
Auf der einen Seite würde man einen strategisch wichtigen Partner näher an sich binden, was sich geopolitisch auf Bereiche wie der Energieversorgung und der militärischen Sicherheit auswirken kann. Auf der anderen Seite muss man sich fragen, wie die EU mit solch einem neuen Mächteverhältnis innerhalb seiner Grenzen umgehen würde. Mit seinen über 70 Millionen Menschen wäre die Türkei das zweitgrößte Land der EU und hätte demnach im Europaparlament mehr Stimmen als zum Beispiel England oder Italien, aber auch in anderen Institutionen wäre ihr Einfluss deutlich spürbar.
Die Entscheidung für oder gegen den Beitritt wird demnach weite Kreise ziehen und gehört damit zu den wichtigsten Fragen der EU. Oft wurden historische oder kulturelle Gründe bei der Argumentation herangezogen – kontrovers bleibt die Diskussion aber auch wegen der weitreichenden Konsequenzen einer Türkei in der EU.