Nun lebte ich in Italien. Dem Land, in dem viele meiner Landsleute Urlaub machten. Dem Land der Kultur, der Geschichte, der Architektur und der Mode. Und ich saß - in dem zugegebenermaßen netten Dörfchen San Marino - fest.
Ich wollte mehr sehen. Wollte Ausflüge machen, Wollte das Leben genießen. Doch so einfach ging das nicht. Italo arbeitete 6 Tage die Woche. Da wollte er sich sonntags ausruhen. Außerdem war er oft durch seinen Alkoholkonsum nicht in der Lage, einen Ausflug mit uns zu machen.
Selten schafften wir es gemeinsam, einen Ausflug an den Gardasee, der nur ungefähr 70km entfernt war, zu unternehmen. Es war herrlich dort. Am See flanieren, die vielen Touristen zu sehen, das bunte Angebot der Händler, die netten Örtchen rund um den Gardasee, die herrliche Landschaft, Ich blühte jedesmal regelrecht auf. Während es Italo seine letzten Reserven kostete.
Selbst ein Besuch im Freibad war ihm zuviel. Alleine mit 2 so kleinen Kindern war mir das auch zu anstrengend und zu verantwortungsvoll. So verbrachte ich die meisten Wochenenden mit den Kindern zuhause.
Immer öfter stritten wir uns um diesen Punkt. Er konnte es nicht verstehen, dass ich am Wochenende raus wollte und ich konnte nicht verstehen, dass auch er seine Regenerationspause brauchte. Ich sah nur seinen Alkoholkonsum und fing wieder an zu nörgeln. Darauf reagierte Italo mit Aggressionen. Wir hatten unseren alten und wohlbekannten Zustand wieder.
Ich denke, es war auch die Verantwortung, die auf Italo lastete, die ihn dazu brachte, immer öfter immer tiefer ins Glas zu schauen. Er war erst 25 Jahre alt und hatte eine 4-köpfige Familie zu ernähren. Sein Job war hart und zeitintensiv. Da er den Alkohol bereits vorher dazu benutzte, aus der Tretmühle auszusteigen und sich voll zu dröhnen, war es absehbar, dass er das jetzt auch in Italien tat.
Ich hatte unrecht gehabt. Unser Umzug nach Cremona war leider nicht die Chance, die ich uns so sehr gewünscht hatte. Im Gegenteil. Hier wurde alles nur noch schlimmer.
Marco wurde im Dezember 1985 getauft. Die Taufe fand in der Dorfkirche in San Marino statt. Zur Taufe kamen meine Eltern, Italo's Bruder Adriano mit Familie, sowie Italos Mutter und seine Schwester aus Deutschland angereist.
Am Abend vor der Taufe saßen wir alle gemeinsam gemütlich in unserem Wohnzimmer beisammen. Auch das ein oder andere Fläschchen Wein wurde geleert. Ich bemerkte, dass Italo immer wieder alleine in die Küche ging. Das tat er, um nebenher unbemerkt und heimlich weiter Alkohol zu trinken.
Irgendwann verabschiedete er sich vorzeitig von den anderen und ging zu Bett. Er war einfach zu betrunken, als dass er sich noch hätte vernünftig an der Unterhaltung beteiligen können.
Am nächsten Morgen - also am Tag der Taufe unseres Sohnes - ging es ihm sehr schlecht. Er hatte einen ausgewachsenen Kater, musste sich mehrmals übergeben. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, obwohl wir Dezember hatten und es kalt war. Und er zitterte an beiden Händen.
Er war derjenige, der die Taufkerze seines Sohnes an der Altarkerze anzünden sollte. Doch mit diesem Tremor war das fast unmöglich. Also was machte er, damit das Zittern aufhörte? Er trank frühmorgens bereits weiter. Doch diesmal setzte die gewünschte Wirkung nicht ein. Es wurde und wurde nicht besser. Er spielte sogar mit dem Gedanken, der Taufe seines Sohnes fern zu bleiben. Die Taufe hätte nicht statt finden können ohne ihn als Vater. Seine und meine Familie wären umsonst aus Deutschland angereist. Und das nur, weil er mal wieder zuviel getrunken hatte. Was für eine Blamage! Das konnte und wollte ich nicht zulassen und bearbeitete ihn so lange, bis er sich mit uns zur Kirche schleppte. Die ganze Taufzeremonie, während der wir mit den Taufpaten am Taufbecken standen, beobachtete ich ihn. Ich sah, wie kreidebleich er war, sah seine Schweißperlen auf der Stirn, die er sich immer wieder abwischte, sah seine Hände zittern.Und auch seine Beine zitterten. Es fehlte nicht viel und er wäre zusammen gebrochen.
Der Moment, an dem er die Taufkerze anzünden sollte, war gekommen. Doch seine rechte Hand zitterte so sehr, die lange Kerze schlug in seiner Hand aus, immer wieder, von links nach rechts...von rechts nach links... er traf einfach die Flamme der Altarkerze nicht, er war nicht in der Lage, Marco's Taufkerze anzuzünden. Sein bleiches Gesicht wurde noch bleicher, man sah ihm die Anstrengung an, die es ihn kostete, sich auf diesen Akt zu konzentrieren. Er versuchte es immer und immer wieder, er schaffte es nicht. Es war ein entwürdigender Augenblick, als er den Arm sinken ließ, mit gesenktem Kopf da stand und leise murmelte:"Ich schaffe es nicht!"
In genau dieser Sekunde zerbrach etwas in mir.
Den tiefsten Sprung bekam meine Hoffnung, die ich bis dato immer noch gehabt hatte. Die Hoffnung, die mich bis nach Italien getragen hatte. Die Hoffnung auf eine glückliche, kleine Familie mit Italo und unseren Kindern. Sie war kaputt.
Auch meine Liebe bekam einen tiefen Riss. Es war, als ob mir jemand in diesem Augenblick in der Kirche am Taufbecken während der Taufe unseres gemeinsamen Sohnes die rosarote Brille abnahm. Ich sah plotzlich klar. Sah die ungeschminkte Wahrheit, sah die Ausweglosigkeit unserer Situation. Ich sah ihn nicht mehr als meinen geliebten Ehemann, mit dem ich bis ans Ende meiner Tage zusammen bleiben wollte. In diesem Moment fühlte ich nichts mehr für ihn, nicht einmal Mitleid. Wenn mich diese Erkenntnis nicht gerade während Marco's Taufe erreicht hätte, ich wäre weggelaufen und hätte ihn stehen lassen. So aber blieb ich und versuchte stark zu sein.
Ich weiß gar nicht mehr genau, wer Italo die Kerze aus der Hand nahm und sie für ihn an der Altarkerze anzündete, ich glaube es war der Pastor. Irgendwie ging die Taufe zu Ende. Marco war sehr lieb und schrie überhaupt nicht, als er das Taufwasser über den Kopf geschüttet bekam. Er wurde von seinem Patenonkel Adriano die ganze Zeit getragen.
Der Gottesdienst war zu Ende und ich schüttelte viele Hände, zu denen ich heute kein Gesicht mehr habe. Zu sehr hatte die geschilderte Situation mich erschüttert, zu sehr beschäftigte sie mich.
Ich war wie in Trance, funktionierte aber trotzdem. Wir fuhren in den Nachbarort in das Restaurant, in dem wir für die Festlichkeit das Essen bestellt hatten. Es lief alles hervorragend. Keiner sprach über den Vorfall, denn alle wussten von Italo's Alkoholproblem und wussten, warum das in der Kirche passiert war. Jeder gab sich Mühe, das Geschehene zu überspielen, um ihm damit einen Gefallen zu tun. Italo selbst war auffällig still und hielt sich während des ganzen Tages mit dem Trinken zurück.
Am Nachmittag nahm mich meine Mutter bei einer sich ergebenden Gelegenheit zur Seite und sprach mit mir. Sie machte sich große Sorgen um mich und die Kinder und bot mir an, mich am nächsten Tag mit nach Deutschland zu nehmen. Ich war hin und hergerissen, doch ich lehnte ab. Mir war zwar nun klar geworden, dass ich früher oder später gehen musste, allein der Kinder wegen. Doch zuerst musste ich noch mit Italo einiges klären. Die Hoffnung und die Liebe war verschwunden, doch mein Verantwortungsgefühl ihm gegenüber wurde immer lauter. "Du kannst ihn in diesem Zustand unmöglich alleine lassen!" dachte ich, "nicht dass er sich dann was antut! Er braucht Hilfe. Erst wenn ihm geholfen wird, dann kannst du gehen!"
Meine Mutter war sehr traurig über meine Entscheidung. Sie verstand auch nicht, dass ich ihm erst noch helfen wollte, bevor ich mich von ihm trennen würde. Aber sie akzeptierte notgedrungen meine Entscheidung und legte mir ans Herz, ich solle nicht zu lange warten. Ein Anruf würde genügen und sie würde alles für mich und die Kinder vorbereiten. Meine Eltern wohnten damals in einer 3-Zimmer-Eigentumswohnung. Das Kinderzimmer würden sie mir und den Kindern vorübergehend zur Verfügung stellen, so lange bis ich wieder auf eigenen Beinen würde stehen können.
Es war eine große Beruhigung zu wissen, dass meine Eltern mich und die Kinder auffangen würden, wenn der Tag der Trennung gekommen war. Diese Gewissheit gab mir Kraft.
Als unsere Familien sich am nächsten Tag wieder auf den Heimweg nach Deutschland machten, fiel mir der Abschied gar nicht so schwer. Ich wusste, ich würde ihnen mit den Kindern bald nachreisen.