Es gehört zu den Kuriosa unserer Zeit: Während erneut ein Streit aufflammt über den Kapitalismus und seine destruktiven Kräfte, scheint das, was ihn groß und mächtig gemacht hat, auch von Seiten seiner Befürworter gar nicht mehr geschätzt zu werden. Die Entfesselung der Produktivkräfte hatte Karl Marx, der scharfsinnigste und schärfste Kritiker dieses Wirtschaftssystems das genannt, was der aufkommende Kapitalismus zustande brachte. Keine Ökonomie vor ihm hatte vermocht, die Produktivität der Menschen so zu mobilisieren und diese auch noch in einem nie gekannten Maß zu organisieren und zu konzentrieren. Dem zugrunde lag und liegt der Gedanke von Leistung und Wertschöpfung. Beides Attribute, die man sich angesichts der zeitgenössischen Entwicklungen näher ansehen sollte.
Karl Marx-Denkmal – Foto: © Jim Pfeffer / pixelio.de
Kapital, so skizzierte Marx in seinem gleichnamigen, voluminösen Werk, ist ein Prozess. Nicht Wert an sich, oder gar zu verwechseln mit Geld, dem allgemeinen Äquivalent, wie er es nannte. Nein, Kapital ist der Prozess der Wertschöpfung, d.h. der Synergie von Rohstoffen, Ideen und menschlicher Leistung unter Zuhilfenahme von Technik und Instrumenten. In diesem Prozess entstehen neue Werte, die sich von der Summe der verausgabten substanziell unterscheiden.
Die menschliche Leistung ist das Zentrale, um das es gehen sollte, aber genau sie ist es, die zunehmend tabuisiert oder verballhornt wird. Die niederländischen Protestanten wussten es schon immer: Es gibt keinen edleren Treibstoff für die menschliche Motivation als den Erfolg. Grundlage des Erfolges ist vor allem, nehmen wir einmal die Lotterie und die Finanzspekulation aus, die eigene Leistung. Und genau da wird dem Kapitalismus als produktivem System von zwei Seiten der Kampf angesagt. Zum einen von einer Ideologie der Passivität, einer korporierten Vorstellung davon, dass Menschen, die sich in einer Wertschöpfungskette befinden, per se schon bemitleidenswert wären. Dieser Ideologie geht es schon lange nicht mehr um Bedingungen, die es ermöglichen, Leistung gemäß eigener Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erbringen. Ihr ist das Faktum, dass Leistung aufgrund abgeschlossener Vertragsbedingungen zu erbringen ist, bereits ein Dorn im Auge.
Die andere Unterhöhlung der Leistung wird aus den vermeintlichen Hochburgen des Kapitalismus selbst betrieben. Die Börse, einst ein Markt für die Suche nach Investitionen mit guter Prognose, ist zu einem zunehmend wachsenden Anteil zu einem Forum geworden, dass wohl am treffendsten mit dem Begriff des Casino-Kapitalismus beschrieben worden ist. Um im Jargon zu bleiben: Die größten Assets des Kapitalismus, Leistung und Investition in Leistung sind genau dort, wo sie organisiert und gehandelt werden sollen, zu einem Tabu geworden. Es geht immer wieder so weit, dass intakte Wertschöpfungsprozesse von dort aus vernichtet und das luzide Beispiel von Leistung und ihrer Macht zerstört wird. Der Kapitalismus schändet sich an der Börse quasi in der eigenen Kirche.
Das profane Alltagsleben ist wie immer ein Spiegel dessen, was in den Konstruktionsbüros von Wirtschaft und Staat ersonnen wird. Insofern ist es kein Zufall, dass genau in der Zeit, in der die Grundlagen der Leistung multipel unterminiert werden, auch dort zunehmend von Achtsamkeit und Wertschätzung gesprochen wird. Es drückt ein tiefes Verlangen aus für etwas, dass nicht mehr stattfindet. Der beste Schutz sind allerdings nicht salbungsvolle Rituale und Gesten, sondern die Möglichkeiten zu erstreiten, auch dort, in der eigenen Tagespraxis, Leistungen erbringen zu können, die für das sie erbringende Individuum selbst und für andere von Wert sind. Das ist qualitativ eine andere Geschichte. Und sie zu realisieren, erfordert oft radikale Schritte.
von Gerhard Mersmann
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