Die Stunde der Demagogen

Als Alice Schwarzer während des Kachelmann-Prozesses in einer Talk-Show den verhängnisvollen Satz von sich gab, leider herrsche im Rechtssystem dieses Landes die Unschuldsvermutung, zumindest so lange, bis die Schuld eines Delinquenten bewiesen sei, da wusste sie anscheinend selbst noch nicht, wie wichtig so etwas sein kann.

Einmal abgesehen davon, dass sie nicht mehr in den Genuss dieses hohen Rechtsgutes kommen kann, weil in ihrer Causa die Sachlage eindeutig ist, so wurde dennoch klar, wie es in der Öffentlichkeit um das Rechtsbewusstsein bestellt ist. Es regte sich nämlich niemand über diese frivole Bemerkung auf. Längst, so könnte man hinzufügen, spielt dieser Rechtsgrundsatz in der öffentlichen Meinung keine Rolle mehr. Das viel gepriesene Netz mit seiner neuen Öffentlichkeit, das angeblich steht für eine neue Art der Demokratie, ist auch ein Korridor für Vorverurteilung und Massenpsychose.

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Stunde der Demagogen und Machtfaktor Medien – Foto: © artrealisation / politropolis.de

Die vox populi, die “Stimme des Volkes” ist immer ein zweischneidiges Schwert. Zum einen gehört die Meinung der Öffentlichkeit selbst zu den Grundlagen demokratischer Willensfindung. Zum anderen ist sie auf keinen Fall ein Garant für eine qualitative Weiterentwicklung der Demokratie. Der Appell an die Emotion ist immer noch ein Faustpfand für gesättigte Fehlentscheidungen. Nur, wenn die politische Willensbildung etwas mit Bildung und der kritischen Herausbildung von individueller Reflexion zu tun hat, kann die Erwartung formuliert werden, dass Partizipation zu wahrhaftiger Teilhabe tendiert. Leider geht die Entwicklung zunehmend in eine andere Richtung. Vor allem die Medien haben sich von der Funktion einer demokratischen Kontrolle gegenüber dem politischen System zu einem Machtfaktor entwickelt, der zunehmend mit Mitteln von Manipulation und Propaganda ins Geschehen eingreift. Das, was in vielen gesellschaftlichen Fragen als der politische Mainstream formuliert wird, entpuppt sich zunehmend als eine Anleitung zu Vorverurteilung und Ausgrenzung. Die Autonomie der politischen Institutionen und des Rechtssystems stehen zumeist nur noch auf dem Papier.

Die große Anstrengung, die die Demokratie von den Menschen verlangt, die in ihr leben, ist das Aushalten einer Asynchronität von Theorie und Praxis. Um das zu gewährleisten, wurden Institutionen geschaffen, die frei von Interessen und Einflussnahme dem Geschäft der Überprüfung von Taten und Prozessen zu einem Urteil kommen sollen, das dann in den politischen Diskurs zurückgeworfen werden kann. Wenn dieses nicht mehr der Fall ist, wenn bestimmte Showstars der öffentlichen Meinungsbildung die Rolle dieser Institutionen übernehmen und deren Berechtigung infrage stellen, ist bereits ein neues Stadium eingetreten, das die Abkehr von der Demokratie festzuschreiben droht: Es ist die Stunde der Demagogen.

Angesichts ihres Auftretens in der medial organisierten Präsenz wäre es an der Zeit, den Beweis zu führen. Ein Beweis, der erforderlich ist, um nicht gänzlich der vermeintlichen Identität eines demokratischen Gemeinwesens verlustig zu gehen. Denn keine Nachrichtensendung, die das Weltgeschehen zum Gegenstand hat, keine Diskussionsrunde, in der nicht globale Ereignisse erörtert werden, in der nicht mit einem erhobenen Zeigefinger die Akteure dieser Welt belehrt würden, auf was man alles zu achten hätte, um dem Ideal einer musterhaften Demokratie näher zu kommen, in denen nicht jene Demagogen das Wort führten, deren Entlarvung die Grundlage dafür bildeten, sich nicht auf der internationalen Bühne lächerlich zu machen. Wer Demagogen aufsitzt, hat das Wesen der Demokratie nicht begriffen. Es ist hohe Zeit, den Rattenfängern im eigenen Lande den Garaus zu machen. Es ist nicht der Beweis für demokratische Reife. Aber es wäre ein starkes Indiz.

von Gerhard Mersmann

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Foto: © artrealisation / politropolis.de


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