Kai verbrachte den Nachmittag damit, Rosenblätter zu verstreuen. Nach stundenlangem Dekorieren wischte er sich nun die Hände an den Jeans ab, trat zurück und betrachtete sein Werk.
Das Schlafzimmer wirkte wie ein japanischer Garten im Herbst; eine Spur aus roten Blüten führte von der Treppe zum Bett, um welches ein Arrangement aus roten Teelichtern ein Herz formte. Flackernd und tanzend verströmten die Flammen den Duft von Romantik im Raum.
Wenn das nicht funktionierte, dann wusste Kai auch nicht, was überhaupt funktionierten sollte.
Er zündete sich an der Kerze eine Zigarette an, zögerte einen Moment, dann legte er auf das Kissen den Ring, der ihm seit dem Mittag in der Tasche brannte.
Letzte Woche hatte er Kathi in flagranti erwischt: mit ihrem Chefarzt.
Er hatte einen schwerzen Fehler begangen: Unangekündigt bei seiner Freundin auf der Arbeit aufzutauchen, mit einem Strauß Blumen in der Hand, war ihm in dem Moment als gute Idee erschienen; doch dann hatte er sie gesehen, durch den Türschlitz zum abgedunkelten Pausenraum, von wo aus unverständliches Gekicher an sein Ohr gedrungen war.
Von alleine bewegten sich Bettlaken nicht auf solch eine Weise.
Kathis Chef war ein Bild von einem Arzt – groß, schlank, stahlblaue Augen und Zähne, die wie Perlen funkelten. Unter anderen Umständen hätte Kai sich selbst fast in ihn verliebt.
Unfreiwillig schaute Kai an sich herab: Über den Rand seines Bauches sah er gerade noch so die Spitzen seiner haarigen Zehen. Zum Glück sah er von hier oben nicht seine krummen Beine, das hätte ihn noch mehr verunsichert. Kai wusste außerdem, dass er zu viel rauchte – und dass es alles andere als sexy war, wenn er nach zwei Stunden Dekorieren schwitzte, wie ein Sprinter bei den Olympischen Spielen. Aber so war das nun mal. Was sollte er gegen einen Halbgott in Weiß ausrichten? Und das Krankenhaus, in dem Kathi arbeitete, war voll von solchen Typen. Da musste ein armer Student ja zu verzweifelten Maßnahmen greifen. Oder?
Kathi hingegen war ein echter Feger. Man fand selten Frauen, die gleichzeitig schlank, schlau, schön und sexy waren, da machte er sich nichts vor. Als Bonus oben drauf hatte sie jederzeit eine Krankenschwesternuniform griffbereit. Jackpot!, nannte man sowas. Um solch eine Frau zu halten, musste man sich etwas einfallen lassen. Wenn Kai nur nicht so endlos nervös wäre.
Jeden Moment würde Kathi von der Schicht nach hause kommen. Er wusste nicht warum, aber irgendwie hatte Kai das Gefühl, etwas wichtiges vergessen zu haben. Aber er kam ums Verrecken nicht drauf. Kai ging hinunter ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Der Bildschirm knisterte. Er zappte sich durch die Programme. Es war zwanzig Minuten vor Acht und als auf dem Bildschirm eine Gruppe Berufsjugendlicher aus Berlin-Mitte auftauchten, erstarrte er vor Panik, denn er erinnerte sich, was er vergessen hatte.
Heute Abend lief „die Serie“.
Kathi kam durch die Tür geeilt, als hätte sie vergessen den Herd auszuschalten. “Ich bin spät dran!” verkündete sie beim Eintreten und schleuderte ihre Handtasche und ihre Schuhe in die Ecke. Sie hetzte ins Wohnzimmer und als sie den eingeschalteten Fernseher erblickte, blieb sie stehen. “Du hast daran gedacht – oh, wie süüüüüß von dir!”
Kai hatte sie im Flur erwartet, mit leicht geöffneten Armen. Er war nervös, seine Hände schwitzten; doch er hatte keine Ahnung, was Kathi meinte.
“Das Staffelfinale!”, jauchzte sie und fiel ihrem verdutzten Freund um den Hals. Die ungeplante Druckwelle der Zuneigung überforderte ihn. “Ab morgen ist Sommerpause. Sechs Folgen an einem Stück. Der wichtigste Tag im Jahr – und du hast dran gedacht!”
Kai lächelte unbeholfen. “Ach so, natürlich. Für dich würde ich doch alles tun.” Er biss sich auf die Lippe. “Ich hab sogar noch eine Überraschung für dich.”
Kathi, die sich eilig auf dem Sofa niedergelassen und die versteckte Chipstüte unter der Couch hervorgeholt hatte, schaute auf. “Oh, wirklich? Was denn?”
“Magst du für fünf Minuten mit mir nach oben kommen?”
“Ich-“, setzte Kathi an, doch wurde unterbrochen: Ihr Handy klingelte. Es war Verena, Kathis beste Freundin. Sie saß gerade in ihrer Wohnung, ebenfalls mit einer Tüte Chips ausgerüstet und wartete gespannt auf den Anfang “der Serie”. Kathi nahm den Anruf an und ohne, dass sie Kai noch einmal ansah, brach ein aufgeregtes Geschnatter aus.
Im Fernsehen versuchte gerade ein junges Mädchen mit braunen Haaren, sich auf zweideutige Weise ihrem Freund zu nähern. Der schien gedanklich jedoch nicht ganz bei der Sache zu sein.
“Hast du gesehen, was für billige Klamotten sie trägt?” wurde es am Telefon diskutiert. “Da würde ich mich an seiner Stelle auch lieber auf das Testbild konzentrieren.”
Kai konnte nicht anders, als sich ein wenig in die Ecke gestellt zu fühlen.
Eine Herausforderung, dachte er. Na gut.
Als Frau war Kathi natürlich multitaskingfähig: Sie starrte gebannt auf die Mattscheibe und telefonierte, kommentierte das Geschehen, schob sich mit der freien Hand Chips in den Mund, bis sie von einem Kitzeln an ihrem Hals jäh unterbrochen wurde.
„Was machst du da?“
Kai hatte unauffällig damit begonnen, Kathis Nacken zu küssen. „Ich lasse mich vom Fernseher inspirieren“, erklärte er. „Gefällt es dir?“
„Was bist du denn heute so verschmust?“
„Ich hab den ganzen Tag lang auf dich gewartet.“
„Hast du mich vermisst?“
„Mhmm“, schnurrte Kai und zwinkerte seiner Freundin zu. „Was meinst du, wollen wir nach oben gehen?“
„Also…“
Kai sah bereits, wie Kathi das ‚Ja‘ auf der Zunge lag, da schrillte ein Schrei („Oh mein Gott, oh mein Gott!“) aus dem Telefonhörer direkt neben seinem Ohr. Kai sprang vor Schreck auf, schlug aus und stieß sich seinen Zeh am Bein des Wohnzimmertischs.
“Was ist passiert?”
Kathi schien aufgeregt. “Das Mädchen von gerade”, rang sie stammelnd nach Worten. “Sie hat sich vor ein Auto geworfen!”
“Warum?”
Verständnislos blickte Kathi ihren Freund an: “Na, um Aufmerksamkeit zu bekommen.”
Und es schien zu wirken: Die junge Brünette, die vorhin noch vergeblich um einen Ausschlag in der Aufmerksamkeitsspanne ihres Angebeteten gekämpft hatte, lag nun komatös in einem Krankenbett, mit blauen Schläuchen im Hals. Ihr Freund – einer dieser arroganten Aufschneider in Weiß – rieb sich vor Sorge um seine Frau und wegen der nagenden Schuldgefühle die Augen. Hätte er sie doch nur mehr beachtet!
Kai lachte bitter in sich hinein. An und für sich keine schlechte Idee – er wollte nur nicht aus dem Fenster springen müssen, um Kathi einen Antrag zu machen.
“Kommst du jetzt mit hoch, oder nicht?”
“Mhmm”, war die Antwort, eine weitere genuschelte Ablehnung.
Na gut, dachte Kai. Dann eben auf die harte Tour.
“Ich geh eine rauchen”, verkündete er nach einem Moment und verschwand nach nebenan, in das Büro.
Zwei Minuten später, als Kathi weiterhin gebannt mit dem Telefon am Ohr und den Chips im Mund vor dem Fernseher saß, passierte das Undenkbare:
Der Bildschirm wurde schwarz.
Der darauf folgende Schreckensschrei aus dem Wohnzimmer war auch durch die Betonwand zu hören. Kai drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und trat vorsorglich einen Schritt von der Tür zurück. Gleichzeitig ließ er die Sicherung, die er aus dem Stromkasten geschraubt hatte, in seine Jeanstasche rutschen.
“Ist was passiert?” fragte er, als Kathi ins Büro stürmte. “Hast du dich verletzt?”
“Der Fernseher!“, hechelte sie. “Der Strom ist aus!“
“Also hier funktioniert noch alles…“
“Hast du irgendwas gemacht?”
“Nicht, dass ich wüsste.”
“Verarsch mich nicht!” rief Kathi und packte ihren Freund am Kragen. Ihre Augen funkelten wild wie die einer Löwin, der ihr Junges geraubt wurde. “Ich schwöre dir…”
Erst jetzt bemerkte Kai, wie sich Kathis rot lackierte Fingernägel durch den Stoff in die Haut bohrten. War das überhaupt Nagellack auf ihren Fingern, oder doch sein Blut?
Und hatte seine Freundin tatsächlich Schaum vor dem Mund?
“Schon gut!“, beschwichtigte er sie. “Ich glaube, ich weiß woran es liegt. Geh du rüber, ich kümmere mich drum. Versprochen.”
Kathi ließ von ihm ab. Kai si machte ch daran, die Sicherung wieder einzuschrauben.
“Was für eine Irre”, brummte er vor sich hin. Dann musste er unwillkürlich Lächeln.
Was für eine Irre, wiederholte er in Gedanken. Meine Irre.
Plötzlich kam Kai aus dem Grinsen nicht mehr raus; er fühlte sich erleichtert, denn er hatte etwas verstanden. Etwas Wichtiges:
Kein Chefarzt der Welt, würde sich mit einer Verrückten wie Kathi einlassen. Keiner.
Aber er. Das stand fest.
“Warum grinst du so blöd?” fragte Kathi, als Kai schließlich ins Wohnzimmer zurück kehrte. Der Fernseher lief, der Strom war an – in Berlin-Mitte nahm das Schicksal die nächste dramatische Wende.
“Nichts besonderes. Ich hab mich nur erinnert, wie einzigartig du bist.”
Mit ausgestreckten Armen Griff Kathi ihn am Kragen und zog Kai zu sich auf’s Sofa.
“Du bist so süß”, flüsterte sie zwischen schmatzenden Küssen. “Ich liebe dich!“
Und so küssten und streichelten sie sich zur Titelmelodie der “Serie”, bis Kai der beißende Geruch von Qualm aus dem Schlafzimmer in die Nase stieg und aus der Ferne der Klang von Sirenen an ihre Ohren drang.