Die Seimsographen stehen still

Wir erleben dieser Tage ein politisches Erdbeben, und die Seismographen bleiben still. Stattdessen messen sie die Windstärke, halten die Zunge in den Wind und schmecken das Wetter oder beklagen sich über die leichte Bewölkung. Das Äquivalent ist die Klage über irgendwelche Details in den Verhandlungen über die Große Koalition, ist die Konzentration auf den begleitenden Theaterdonner, ist die Debatte darüber, ob vielleicht doch Neuwahlen anstehen. Währenddessen reißen die Parteien die politischen Leitlplanken der letzten 30 Jahre aus.
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Das Ende der FDP als Bundestagspartei (und machen wir uns nichts vor, die Wahrscheinlichkeit für ihr endgültiges Ende ist gering) wird bisher hauptsächlich unter koalitionsarithmetischer Sicht betrachtet. Sie ist jedoch gleichzeitig auch das Ende einer politischen Idee, die seit den späten 1970er Jahren in Deutschland massiv an Einfluss gewann und ab den 1980er Jahren hegemonial wurde. Die Rede ist natürlich von dem, was heute abschätzig als "Neoliberalismus" zusammengefasst wird; die Vorstellung, die Freiheit des Einzelnen sei dem Wohl der Vielen unbedingt vorzuziehen und, und das ist mindestens ebenso wichtig in diesem Zusammenhang, dass dies nicht nur am Besten, sondern ausschließlich über die Kräfte eines unregulierten Freien Marktes geschehe. Der Schlachtruf jeder Politik war der Ruf nach Reformen, von Herzogs berühmter Ruck-Rede über das Leipziger Programm der CDU zu den Agenda2010-Reformen und dem Wahlkampf 2005. Seither befindet sich die Idee langsam, aber sicher im Niedergang. Ihre Mehrheiten schwanden mehr und mehr, und besonders die einbrechende Finanzkrise machte jegliche Forderung nach einer stärkeren Rolle des Finanzsektors völlig obsolet. Gleichzeitig hielten sich die grundsätzlichen Forderungen hartnäckig im politischen Betrieb und besonders im begleitenden Meinungsfeuer von arbeitgebernahen Lobbyverbänden und liberalkonservativen Medien. Die Bundestagswahl 2013 aber stellt die Wasserscheide dar, die aller Wahrscheinlichkeit nach das endgültige Ende dieser Ideen einläutet. Zumindest, wenn die bisher bekannten Details aus den Koalitionsverhandlungen von SPD und CDU ein Maßstab sein dürfen. Auch wenn - wenig überraschend - bei einer knapp die absolute Mehrheit erreichenden CDU keine vollständige Erfüllung des progressiven Wunschzettels zu erwarten ist, so zeigt sich doch deutlich der Unterschied. 2005, als CDU und SPD in Prozenten fast gleichauf waren, dominierte die CDU-Agenda praktisch vollständig die spätere Politik (etwa bei Mehrwertsteuer und Rente mit 67, den größten politischen Fehlern der SPD jener Epoche), gleichwohl diese bereits merklich von den Leipziger Beschlüssen 2003 abgerückt war. In den aktuellen Verhandlungen deklariert eine anderthalb mal so starke CDU, die fast 20 Prozentpunkte vor der SPD liegt, es als großen Erfolg, Steuererhöhungen zu verhindern und die Sozialdemokraten in einigen Kernforderungen auszubremsen. Die CDU ist vollständig in der Defensive, und wie man Merkel kennt wird sie bald versuchen, die sozialdemokratischen Positionen zu vereinnahmen. Es gehört zu meinen größeren Fehlprognosen, dass Schwarz-Gelb nicht den Mindestlohn eingeführt hat. Es wäre politisch clever gewesen, aber das war mit der FDP nicht zu machen, die sich alle Mühe gab, politisch möglichst viele Niederlagen zu kassieren (die auch zu ihrem rasanten Absturz kaum ein halbes Jahr nach der Wahl 2009 führten). So Noch einmal wird Merkel ihrem Gegner kaum entscheidende Themen überlassen. Da diese Themen aber progressiv geprägt sind - erneut, maßgeblich durch die Identifikation dieser Themen mit der imagegeschädigten FDP, die dafür bei der Wahl massiv bestraft wurde - wird die CDU sich zwangsläufig entgültig vom Reformkonsens der Ära Lambsdorff verabschieden. Sie wird stattdessen wieder in die Richtung zurückkehren, für die Politiker wie Adenauer, Kohl oder Blühm stehen - einen freundlichen "Weiter so"-Konservatismus, der die Leute nicht mit drastischen, schon fast extremistischen Reformforderungen verschreckt. Dass es für diese eine Mehrheit gäbe, war die kollektive Illusion aller, die sie befürworteten. Es funktionierte nur, solange sie glaubhaft das Label der Alternativlosigkeit tragen konnten. Die Finanzkrise und vor allem die Reaktion darauf haben dieses allerdings zerfetzt. Für die SPD bedeutet dies eine seit langem ungekannte Macht, die Agenda zu bestimmen. Die Niederlage von 2009 erweist sich als Segen, denn sie hat gerade den richtigen Mann dafür an der Spitze. Sigmar Gabriel erweist sich gerade als ein taktisch äußerst versierter Parteivorsitzender, der zudem eine Langzeitstrategie zu verfolgt. Obwohl das Wahlergebnis dies Lügen zu strafen scheint, ist der vergleichsweise ruhige und vorhersehbare Gang des Mitgliederentscheids ein Beweis dafür, wie er seine Macht hat festigen können. Die SPD ist wieder eine Partei, die halbwegs im Einklang mit sich selbst zu stehen scheint. Gabriels beständiges Werben um die Basis in den vergangenen vier Jahren scheint Früchte zu tragen. Die Ablehnung einer rot-rot-grünen Option etwa ging überraschend glatt von der Hand. Wer das alles nicht glauben will, kann sich im Video einer Rede von Gabriel auf einer Regionalkonferenz der SPD selbst davon überzeugen. Sein Stil ist offen und ehrlich, und er arbeitet stets daran auch diejenigen einzubeziehen, die seine Meinung nicht teilen ("Seid mir nicht böse"). Und er hat Recht: die SPD hat keine Optionen abseits der Großen Koalition. Die CDU aber auch nicht. Für beide Seiten wären nur Neuwahlen eine Möglichkeit, und die würden aktuell nur die wahrscheinliche Möglichkeit eines Sechs-Parteien-Parlaments bescheren. Daran aber hat keine der beiden Volksparteien Interesse. Nein, die Aussichten der SPD sind besser, als es für viele den Anschein hat. Zu viele machen den Fehler, ständig die Große Koalition von 2005-2009 als Vergleichsmaßstab zu verwenden. Stattdessen sollte man den Blick auf die Jahre 1966-1969 wenden. Auch hier ging die SPD als Juniorpartner in eine Koalition, in der sie wahrlich nicht alle ihre Inhalte umsetzen konnte. Gleichzeitig aber beendete sie eine Epoche und läutete zusammen mit der eigentlich stärkeren CDU einen Politikwechsel ein, der für ein Jahrzehnt formativ werden sollte. In der ersten Großen Koalition wurde die Politik formal auf keynesianische Globalsteuerung festgelegt und wurde das Wachstums- und Stabilitätsgesetz geschaffen. Beide Institutionen wurden erst mit dem Lambsdorff-Papier von 1982 endgültig begraben. Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD 2013 könnte ein ähnliches Begräbnis für Lambsdorffs Vermächtnis werden.

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