Irgendwo im Nirgendwo, am Rande der Träume in der Traumdämmerung, liegt eine Kneipe, die ich oft besuche um ein imaginäres Bier zu trinken und den Gesprächen der anderen Besucher zu lauschen. Wer sie sind und ob es sie wirklich gibt, vermag ich nicht zu sagen. Ich weiss nur, dass sie mir in der Wirklichkeit noch nie begegnet sind, zumindest nicht in diesem Leben. Vielleicht sind diese Traumgestalten nur Echos meine selbst und ihre Gespräche nichts anderes als meine Selbstgespräche. Trotzdem freue ich mich immer wieder auf die Besuche in der kleinen Kneipe, bevor ich das Tor zu dem unendlich weiten und tiefen Land der Träume durchschreite. Dieses Tor liegt übrigens gerade rechts neben der Theke, dort wo eigentlich die Tür zu den Toiletten sein sollte.
Gestern war ich wieder dort und sass an einem Tisch neben der Eingangstür. Erstaunt stellte ich fest, dass ich der einzige Gast war. Im Flackern der Kerzen auf den Tischen war niemand zu erkennen. Als der Wirt mein Bier brachte, setzte er sich zu mir an den Tisch. Zum ersten Mal betrachtete ich den Mann genauer. Er sah aus wie jedermann, ohne spezifische Eigenschaften, austauschbar und unauffällig. Nur seine Augen passten nicht zu jedermann. Sie waren dunkel wie die finsterste Nacht. Sogar das Weiss der Augäpfel war nicht zu sehen. In der Wirklichkeit würden mir solche Augen einen Schrecken einjagen, doch in Träumen ist der Schrecken oft nur ein Erstaunen.
Man sagt, dass die Augen eines Menschen das Tor zu seiner Seele seien. Hatte der Wirt keine Seele? Konnte eine Traumgestalt wie er, überhaupt eine Seele haben? Ich beschloss, ihn direkt danach zu fragen:
„Deine Augen sind dunkel wie die Nacht. Was hat das zu bedeuten?“ In der Wirklichkeit wäre manch einer beleidigt ob einer derartigen Frage, doch in Träumen ist fast alles erlaubt. Der Wirt verzog seinen Mund zu einem gequälten Lächeln.
„Das war nicht immer so. Einst strahlten auch sie wie die Sterne am Himmel. Doch dann packte mich die Sehnsucht nach der Zeit. Sie verwandelte mich und schloss Tür um Tür in meinem Innern.“
Ich war erstaunt. Von einer Sehnsucht nach der Zeit hatte ich noch nie etwas gehört. War das ein Gefühl wie Fernweh? Nur dass man sich nicht in weite Ferne wünschte, sondern in weit entfernte Zeiten? War es vielleicht ein Gefühl wie Nostalgie? Die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten? Nach alten Lieben, glücklichen Momenten und verpassten Gelegenheiten?
„Du sehnst dich nach der Vergangenheit?“
„Nein, was gewesen ist, ist verschwindet im Schlund der Zeit. Nichts kann es zurückholen. Ich sehne mich nach der Zukunft. Es ist wie ein Feuer, das in mir brennt und in dem sich meine Seele verzehrt.“
Eine eigenartige Krankheit, dachte ich. Doch gar nicht so ungewöhnlich. Viele Menschen sehnen sich nach der Zukunft. Nach dem nächsten Wochenende, dem nächsten Urlaub, der Pensionierung. Viele leben deshalb nie richtig in der Gegenwart.
„Dann sehnst du dich nach dem Ende deiner Arbeit in dieser Kneipe?“, fragte ich. Obschon mir nicht klar war, ob der Traumwirt je pensioniert werden würde oder ob er seine Arbeit bis ans Ende der Zeit fortsetzen musste.
„Nein, ich sehne mich danach, in der Zeit zu reisen. Weit in die Zukunft. Zu erleben, wie sich die Welt im Zeitstrom entwickelt, das Aufblühen und Sterben von Zivilisationen zu verfolgen und schliesslich das Ende der Zeit zu schauen.“
Das war in der Tat eine eigenartige Sehnsucht. Natürlich interessiert auch mich, was aus dieser Welt und ihren Bewohnern wird, auch wenn ich nicht unbedingt dabei sein möchte. Doch vom Ende der Zeit möchte ich nichts wissen.
„Als Traumgestalt bist du doch unsterblich. Du brauchst nur lange genug Bier auszuschenken um das Ende der Zeit zu erleben“, wandte ich ein. Zugegeben, das war taktlos. Doch im Traum gerät man öfter aus dem Takt als in der Wirklichkeit. Der Wirt nahm es auch nicht tragisch:
„Meine Zeit hier läuft im Kreis. Sie beginnt jeden Tag von neuem. Der grosse Zeitstrom bleibt mir verwehrt, ich stecke in einem Strudel fest an seinem Rande.“
Manchmal habe ich den Eindruck, dass auch in der Wirklichkeit sich bei vielen die Zeit im Kreis dreht. Euer Traumperlentaucher.