Die Schweiz quält sich durch Europa

Die Schweiz quält sich durch EuropaWer in Europa außerhalb der Schweiz weiß schon, was der 6. Dezember 1992 für ein denkwürdiger Tag war. Die Schweizer und Schweizerinnen scheinen aber heute noch von diesem Ereignis gezeichnet.  Am 6. Dezember 1992 haben die Schweizer Stimmbürger einem Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit der hauchdünnen Mehrheit von 50,3% zu 49,7% abgelehnt. In den Wochen zuvor kam es zu heißen Diskussionen in der Schweiz über den Weg nach Europa. Die Gegner aus den rechtskonservativen Kreisen setzten Himmel und Hölle in Bewegung, um den Stimmbürgern den Weg aus der selbstgewählten europäischen Isolation als den Untergang der Schweiz darzustellen. In den Medien und in der Politik des Landes dominiert deshalb zur Zeit der Rückblick auf diesen Tag und die Aussichten für die Zukunft. Die reaktionäre Schweizer Volkspartei (SVP) veranstaltet sogar eine “Gedenkveranstaltung zum EWR-Sieg”.
Der EWR ist ja nicht die EU. Es ging also nicht einmal um einen EU-Beitritt, den allerdings damals die Schweizer Regierung langfristig anstrebte. Heute blickt man zurück auf den europapolitischen Weg, den die Schweiz seither genommen hat. Genauso bekannt wie die EU ist inzwischen der Begriff “Bilaterale”, den man den Schweizern jetzt als Königsweg im Umgang mit der EU verkauft. Es geht um bilaterale Verträge, die die Schweiz mit der EU abgeschlossen hat. In mühsamer Kleinarbeit hat man nachgeholt, was man mit dem Paket EWR auf einen Schlag hätte haben können. So hat es die Schweiz sogar inzwischen geschafft dem Schengener Abkommen beizutreten. Das bedeutet keine Grenzkontrollen und Zugriff auf die SIS-Datenbank, in der unerwünschte Ausländer gespeichert werden. Der Zoll spielt aber immer noch eine wichtige Rolle, da die Schweiz ja nur teilweise zum Binnenmarkt der EU gehört.
Da es in der EU zur Zeit einmal nicht so rund läuft, hat man in der Schweiz keine Schwierigkeiten im Rückblick zu sagen, gut, dass wir nicht beigetreten sind. Und für die Zukunft haben die EU-Beitrittsgegner derzeit Oberwasser, denn die Schweizer denken gerne in den Kategorien, welchen Vorteil habe ich davon und welchen nicht. Dabei ist kurzfristiges Denken angesagt. Gegenüber dem sie umgebenden Europa erscheinen sie deshalb als kalt und nur auf ihren eigenen Vorteil ausgerichtet. Dass man da immer weniger bereit ist, den Schweizern auf ihrem Sonderweg entgegen zu kommen, zeigt schon die Debatte über das Schweizer Bankgeheimnis und der Stellung des Landes als Paradies für Reiche, Steuerhinterzieher, Steuerbetrüger und Geldwäscher. Stück um Stück bröckelt die Fassade unter dem Beschuss der internationalen Gemeinschaft und der EU. Eine weiteres Fiasko ist das Schweizer Luftverkehrsabkommen mit Deutschland, das dem Flughafen Zürich zu Lasten süddeutscher Regionen einen Vorteil verschaffen sollte. Ein parteiübergreifende Front in Süddeutschland hat den Abschluss dieses Abkommens verhindert. Die Stimmung der süddeutschen Alemannen gegen ihre alemannischen Verwandten in der Schweiz war noch nie so schlecht wie heutzutage.
Der bilaterale Weg ist also eine schöne Illusion, bei dem man meint, man kann das Eine haben ohne das Andere zu wollen. Deshalb sieht auch Claude Longchamp, Studienleiter des Forschungsinstituts gfs.bern, die Neigung, die “Bilateralen” für den besten Weg zu halten, kritisch: “Trotz aller Liebe der Schweizer zu den Bilateralen wird dieser Weg für die Schweiz zusehends steiniger. Der Druck der EU auf die Schweiz hat zugenommen und im Inland ist die Personenfreizügigkeit nicht nur im rechtskonservativen Lager umstritten”, lautet seine Analyse.
Noch ein Stück klarer spricht es der Schweizer Roger de Weck, ehemaliger Chefredakteur der ZEIT und des Tages-Anzeigers, in einem im Jahr 2010 erschienen Artikel in “Der Zeit” aus:
“Der bilaterale Weg jedenfalls, der als Königsweg gerühmt wird, ist ein Schönwetterweg. Stellen Sie sich eine größere Krise vor, die nie auszuschließen ist, etwa Versorgungsengpässe beim Erdöl. Glauben Sie, dass das Land außerhalb der EU die besseren Karten hätte? Nach der Finanzkrise bricht eine Zeit der Verteilungskämpfe an, in denen der Außenseiter Schweiz immer wieder den Kürzeren ziehen wird.
Es gibt weitere Argumente dagegen, einzig und allein auf den Bilateralismus zu bauen.
Erstens ist die EU eine dynamische Rechtsgemeinschaft, die nicht alle zwei, drei Jahre mehr als 120 statische Verträge mit der Schweiz aktualisieren kann. Bei fast allen künftigen bilateralen Verträgen wird das Prinzip des automatischen Nachvollzugs aller EU-Entscheide einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gelten. Wir sind heute schon ein Passivmitglied der EU. Auch muss nach Inkrafttreten des EU-Vertrags das Europäische Parlament wichtige bilaterale Verträge mit der Schweiz gutheißen. Diese Demokratisierung wird uns zu schaffen machen, weil die EU-Parlamentarier Privilegien für die Eidgenossen schwerlich dulden werden.
Zweitens wird der bilaterale Weg immer beschwerlicher, weil ausgerechnet die kleinen EU-Staaten uns die größten Schwierigkeiten bereiten. Stets fürchten wir ein Direktorium der Großen. Die EU der 27 zählt aber 20 Kleine, und sie sind es, die oft den Ton angeben. Unsere großen Nachbarländer Deutschland, Frankreich und Italien neigten dazu, Sonderregelungen zu unseren Gunsten zuzustimmen: Bei der Dichte der Beziehungen unter Nachbarn sind pragmatische Lösungen erwünscht. Das gilt aber nicht für kleinere EU-Staaten; bereits im Endspurt zu den Bilateralen II sperrte sich ein mittleres EU-Mitglied, die Niederlande. Unbequem werden auch die Osteuropäer sein, die aufholen möchten; sie sehen keinen Grund für eine privilegierte Nichtmitgliedschaft der Schweiz.
Drittens bringt uns der Bilateralismus keine Verbündeten. Nur als EU-Mitglied und dank Koalitionen mit EU-Mitgliedern, die ähnliche Interessen haben, werden wir in der »zweiten Globalisierung«, die nicht mehr von Global Players wie Nestlé, sondern von großen Staaten und Staatengruppen in der G20 bestimmt wird, unsere Interessen wirksam vertreten können. Die Niederlande und Spanien haben nur dank eines Powerplays ihrer europäischen Freunde noch einen Klappsitz in der G20 erhalten. Wir hatten keine Chance.
Vor allem aber: Der bilaterale Weg ermöglicht eines nicht, nämlich das Mitgestalten, das Einbringen der Schweizer Werte und Erfahrungen, von denen Europa gern profitieren würde. Souveränität teilen, Interessenausgleich statt Machtspiel: Was wir gelernt haben auf dem langen Weg zur Eidgenossenschaft, sollten wir nicht für uns behalten. Nur wer sich einbringt, hat Einfluss. Die Mitgliedschaft in der EU ist die beste Art und Weise, das nationale Interesse zu vertreten.”
Das ist in der Argumentation an Klarheit nicht zu übertreffen, aber man hat den Eindruck in der Schweiz will diese Situation niemand zur Kenntnis nehmen. Deshalb wird es äußerst spannend bleiben, welchen Weg die Schweiz in Europa einschlagen oder welchen Weg sie gezwungen wird, einzuschlagen.
Informationsquelle
Die Schweizer lieben den bilateralen Weg – swissinfo.ch
der abstimmungskampf des jahrhunderts: wie es zur ewr-entscheidung kam – Blog stadtwanderer
Einstimmen auf die nächste Schlacht - NZZ

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