Die Schweigepflicht

Es war ein kleiner Niklas im Wasserglas – der Ruf nach Lockerung der Schweigepflicht für Ärzte. Zwei Argumente reichten aus, diese Forderung verpuffen zu lassen: Die Schweigepflicht ist heute schon auslegbar und bei Bedrohung anderer umgehbar (auch anonym), außerdem – welcher Patient wendet sich schon an einen Arzt, dem er kein gesichertes Vertrauen mehr entgegen bringen kann?

Auch in der Kinderheilkunde kennen wir das Problem: Kinder werden mißhandelt, vernachlässigt, sexuell mißbraucht. Jugendliche nehmen Drogen und beichten das dem Jugendarzt. Mütter werden geschlagen, Väter betrogen (und vice versa). Schon seit Jahren besteht die Möglichkeit, Delikte dieser Art zu melden, das Jugendamt zu informieren, vor allem aber niederschwellig über Familienhilfe oder Gemeindeschwestern auf die Familien einzuwirken. Der Schlüssel liegt im Hilfeangebot, nicht im Anschwärzen.

Selbstredend suchen wir zunächst das Gespräch mit den Eltern, manchmal hilft das Angebot eines professionellen Kontaktes, um die Situation zu entspannen. Viele Eltern sind dankbar, mit ihren Zwängen und Selbsterlebtem oder ihrer Ohnmacht nicht alleine zu sein. Der Bruch der Schweigepflicht ist letzte Instanz bei fehlender Einsicht, Verleugnung oder akuter Gefährdung des Kindes. Verlieren wir wegen einer zu freien Auslegung den Kontakt zur Familie, dann geht sie “verloren”, dann ist auch die Obacht auf das Kind verloren. Das darf nicht passieren.

Wenn die Schweigepflicht für Ärzte (für Pfarrer und Seelsorger? für Anwälte?) zusätzlich gelockert wird, was fällt darunter? Wer wird angezeigt oder anonym gemeldet? Die psychisch kranke Apothekerin? Der labile Supermarktleiter? Der kaufsüchtige Broker? Piloten und Zugführer, Kreuzfahrtschiffkapitäne und Busfahrer, die reaktionäre politische Meinungen vertreten oder sich religionistisch äußern? Im Politischen gibt es immer Schlupfwinkel, aber wem vertrauen sich die Kranken dann an? Vertrauen bedeutet in der Arzt-Patienten-Beziehung Hoffnung auf Heilung.

Es ist verständlich, dass nach einem Unglück wie dem Absturz der Germanwings-Maschine nach allem gesucht wird, was so etwas in Zukunft verhindern hilft. Aber nun mal ehrlich: Wird es das je geben? Stets passieren Dinge, die wir “uns vorher nicht vorstellen konnten”, das Wüten eines Tsunamis, der 11.September, Brände und Katastrophen. Die Suche nach mehr Sicherheit, noch mehr Eventualitäten auszuschließen, ist menschlich, aber illusorisch. Terroristen werden andere Wege finden. Der menschliche Geist, ob krank oder ideologisch verwirrt, findet immer eine neue Möglichkeit. Wie die Natur, der wir entspringen.

Der Spiegel zum Thema


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