DIE SCHLÖSSER DER LOIRE – ZU ZWEIT?

Von Hillebel

Vor einem Jahr verliebte sich die sonst so besonnene Anke auf einer Urlaubsreise in Frankreich auf den ersten Blick glühend in einen Mann, der nichts von ihr wissen will …

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Anke Gehlen, 35 Jahre alt, erfolgreich im Beruf, Single, wusste, dass sie die schwierigste Reise ihres Lebens antrat. Würde sie ihr das ersehnte Glück bringen, oder … nein, an die andere Möglichkeit mochte sie nicht denken. Was würde ihr in diesem Fall bleiben?

Während sie ihren Koffer packte, erinnerte sie sich …

Es war vor einem Jahr gewesen. Sie war allein in Urlaub gefahren, hatte deshalb eine Besichtigungsreise geplant. Sie wollte sich die Schlösser an der Loire ansehen. Nicht mit einer Reisegesellschaft, im eigenen Wagen. Auf diese Weise würde sie unabhängig sein.

Als Ausgangsort hatte sie Blois gewählt. Mit dem Reiseführer ging sie an der prachtvollen Fassade eines Schlossflügels vorbei, den Blick nach oben gerichtet. Plötzlich stiess sie mit einem Passanten zusammen.

Es war ein Mann von etwa 40 Jahren, der unter dem Stoss wankte. Erschrocken merkte Anke, dass er an Krücken ging.

“Pardon, Monsieur, je suis désolée”, entschuldigte sie sich auf Französisch.

Er hatte das Gleichgewicht wiedergefunden und lächelte ihr zu: “So arg ist es nun auch wieder nicht”, beruhigte er sie auf Deutsch und fügte bedauernd hinzu: “Sorry, aber ich spreche kein Französisch.”

Nun lächelte auch sie: “Das brauchen Sie auch nicht.”

Der Mann hatte ein angenehmes Gesicht. Er war gross, seine Schultern waren hochgezogen, wegen der Krücken, aber sie mussten breit sein, und seine Hände, die die Griffe umspannten, waren kräftig und wohlgeformt.

Jetzt bemerkte sie kleine Schweisstropfen auf seiner Stirn. Er murmelte: “Ich bin es noch nicht gewohnt, so lange zu gehen. Ich werde mich nach einer Sitzgelegenheit umsehen …”

“Da drüben ist ein Café”, sagte sie rasch. “Ich bin Ihnen eine Tasse Kaffee schuldig!”

Er lächelte amüsiert: “Bekomme ich auch einen Cognac dazu?”

Sie versprach es ihm lachend.

Sie passte ihren Schritt dem seinen an, als sie zusammen hinüber gingen. Sie hörte seinen Atem, der stossweise ging und hätte ihm so gern geholfen, aber wie?

Als er sich endlich auf einen Stuhl setzte, sah er grau aus, aber er erholte sich rasch, brachte sogar wieder ein jungenhaftes Grinsen zustande: “Verzeihen Sie, ich lasse mich von Ihnen einladen und habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist Ulrich Mertens.”

“Ich bin Anke Gehlen.”

Der Kellner trat an den Tisch. Anke bestellte zweimal Espresso und Cognac, dann wendete sie sich wieder ihrem Begleiter zu: “Wie ist denn das passiert?”

“Ein Unfall. Bei Glatteis und Nebel auf der Autobahn. Ich bin froh, dass niemand ausser mir und meinem Auto zu Schaden gekommen ist. Natürlich hätte ich nicht fahren dürfen, aber es war ein wichtiger Geschäftstermin, den ich auf keinen Fall verpassen wollte. Tja …” Er hielt ein, überlegte und fuhr dann fort: “Ich betrachte jetzt diesen Unfall wie einen Wink des Schicksals. Es gibt andere Werte im Leben als Business und Geld. Es gibt dieses Café in der Sonne, das herrliche Schloss vor uns. Es gibt Blumen an Fenstern und alte Strassen mit Kopfsteinpflaster, über die eine Katze huscht. Das alles findet man in einem Umkreis von hundert Metern, dafür braucht man nicht nach New York oder Hong Kong zu jetten. Sie glauben nicht, wieviel ich entdecke, seit ich ganz langsam gehe, Schritt für Schritt jeden Tag ein paar Meter mehr erobere. Einen Platz überqueren, das ist wie eine Weltreise.”

Der Keller stellte die Tassen und Gläser vor sie hin. Anke bezahlte.

“Und Sie?” fragte er. “Was machen Sie?”

“Ich mache Urlaub, möchte die Schlösser an der Loire besichtigen. Chambord, Cheverny, Amboise, Chenonceau … Und Sie? Was machen Sie hier in Blois?”

“Auch Ferien, wenn ich in meinem Fall davon sprechen kann. Und dafür genügt mir Blois.”

“Sind Sie allein hier?”

“Ja und nein. Verheiratet bin ich nicht, dazu hat mir immer die Zeit gefehlt. Mich haben Freunde bis hierher mitgenommen. Sie sind weitergefahren, holen mich aber in einer Woche wieder ab.”

Anke sah ihn nachdenklich an und lächelte unwillkürlich. Dieser Ulrich Mertens wirkte ungemein anziehend.

“Wie lange bleiben Sie denn hier?” fragte er.

“Morgen fahre ich nach Chambord. Ich bin mit meinem Wagen hier.”

“Darf ich Sie heute zum Abendessen einladen?” Er zögerte. “Falls es Sie nicht stört, mit einem Krüppel auszugehen.”

“Nein, das stört mich nicht im Geringsten, und ich nehme Ihre Einladung gerne an!”

Als sie abends das von ihm vorgeschlagene Restaurant betrat, wartete Ulrich schon auf sie. Er machte Anstalten, sich zu erheben, als der Ober sie an den Tisch führte.

“Bitte, bleiben Sie sitzen”, beschwor sie ihn, während der Ober ihr den Stuhl zurechtrückte.

“Verdammt, ich kann nicht einmal mehr das tun”, murmelte er.

Die Unterhaltung war leicht und trotzdem ernsthaft. Überrascht stellte Anke fest, dass sie sich noch nie in der Gegenwart eines Mannes so wohl gefühlt hatte.

Als Ulrich die Rechnung beglichen und ein grosszügiges Trinkgeld hinterlassen hatte, brachte der Ober ihm die Krücken.

“Bitte lassen Sie sich von mir zu Ihrem Hotel begleiten”, sagte Anke, als sie draussen waren.

Er zuckte zusammen, erwiderte fast heftig: “Es ist schon schlimm genug, dass ich Sie nicht zu Ihrem Hotel begleiten kann. Ich nehme jedenfalls an, dass Sie keine Lust haben, im Schneckentempo neben mir herzugehen. Aber mich von Ihnen begleiten lassen, das kommt nicht in Frage. Verzeihen Sie, dass ich mich jetzt schon von Ihnen verabschiede, aber ich bleibe noch einen Augenblick hier sitzen.”

Mit diesem Stimmungsumschwung hatte sie nicht gerechnet. Im ersten Augenblick spürte sie Zorn, so barsch abgewiesen worden zu sein, aber dann sagte sie sich, dass die Behinderung ihn empfindlich gemacht hatte. Sie reichte ihm die Hand und sagte: “Also dann: Danke für Ihre Einladung. Ich wünsche Ihnen viel Glück!”

Anke, der die Freiheit und Unabhängigkeit immer wichtiger gewesen war als alles andere, sehnte sich jetzt nach einem Mann, nach Ulrich.

Am nächsten Tag besichtige sie den Herrensitz Cheverny, aber das Gefühl der Einsamkeit nahm zu. Und zum ersten Mal in ihrem Leben tat sie etwas Unvorhergesehenes, völlig Unüberlegtes: Sie brach den Besuch ab und fuhr nach Blois zurück.

Dort ging sie durch die engen Gassen des alten Viertels, von dem Ulrich ihr so viel erzählt hatte, in der Hoffnung, ihm dort zu begegnen. Endlich suchte sie das Café auf, in dem sie sich nach ihrem Zusammenstoss gestärkt hatten – und da sass er!

Als sie neben ihm stand, fragte sie leise: “Bonjour, Monsieur. Ist der Platz noch frei?”

Er wendete ihr das Gesicht zu, sah sie stumm an. Sie setzte sich.

“Warum sind Sie zurückgekommen?” fragte er dumpf.

Vorsichtig antwortete sie: “Ich habe noch nicht alles hier in Blois gesehen. Möchten Sie mein Fremdenführer sein?”

“Das meinen Sie doch wohl nicht im Ernst?”

“Doch, es ist mein völliger Ernst.”

Er schwieg lange, sagte endlich: “Okay, wir können es ja mal versuchen.”
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Es war tatsächlich viel schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte. Dieser Mann war unbändig stolz. Er mochte es nicht, wenn sie sah wie sehr er sich abmühte, wieviel Kraft es ihn kostete, sich an seinen Krücken fortzubewegen.

Anke erriet, wie es in ihm aussah. Sie litt mit ihm, und ihre Liebe wuchs von Tag zu Tag.

Einmal verlor sie die Geduld: “Ihr verdammter Stolz”, schrie sie ihn an. “Warum lassen Sie sich nicht helfen? Es macht mir nichts aus, mich mit Ihnen auf eine Bank oder in ein Café zu setzen, bis Sie wieder weiterkönnen!”

“Wann fahren Sie endlich weiter?” schrie er zurück. “Sie hätten nie zurückkommen dürfen!”

“Uli”, sagte sie leise, “haben Sie vergessen, was Sie mir am ersten Tag gesagt haben? Dass Sie, seit Sie den Unfall hatten, so viel Neues entdeckt haben?”

“Ich habe es nicht vergessen, aber seitdem ist etwas geschehen.”

“Was, Uli?” fragte sie kaum hörbar.

Er sah sie an, und auf einmal begriff sie: Er liebte sie. Genau so heftig, wie sie ihn liebte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, aber er zerstörte ihre Hoffnung mit wenigen Worten: “Ich ertrage es nicht, jemandem eine Last zu sein, niemals, hören Sie? Morgen trennen wir uns, und wir werden uns nie wiedersehen!”

“Ich möchte deine Adresse haben, Uli”, bat sie. Unwillkürlich hatte sie ihn geduzt.

Er schüttelte den Kopf: “Nein. Du musst mich vergessen!”

“Und wenn ich das nicht kann?”

“Die Ärzte haben mir alle Hoffnung genommen, dass ich eines Tages wieder ohne Krücken laufen kann. Ich werde es trotzdem versuchen, Anke. Wenn ich es schaffe, dann werde ich nächstes Jahr wieder hier sein. Am gleichen Tag, zur gleichen Uhrzeit, an dieser Bank.”

“Ich werde auch da sein, Uli!”

Er zuckte sie Achseln: “Du wirst mich bis dahin vergessen haben.” Mühsam stand er auf. “Ich gehe jetzt. Vielleicht bis nächstes Jahr …”

“Uli, bleib, ich will dich nicht verlieren!” Tränen liefen über ihr Gesicht.

Er sah sie unendlich zärtlich an: “Ich kann dir nicht einmal die Tränen fortwischen. Ich bin zu nichts nütze, das siehst du doch!” Langsam ging er fort. Seine Schultern hoben und senkten sich unter der Anstrengung. Sie spürte, dass sie ihm nicht nachlaufen durfte …
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Nun war das Jahr vergangen. Es hatte nicht einen Tag gegeben, an dem sie nicht an Uli gedacht hatte.

Am ausgemachten Tag, zur ausgemachten Stunde, ging sie zur Bank. Sie hatte ihren Schirm im Hotel gelassen, und promt fing es wieder an zu regnen. Es machte ihr nichts aus, nass zu werden, wenn nur Uli da sein würde.

Er war nicht da. Sie setzte sich auf die Bank. Es regnete, die Zeit verging, und er kam nicht.

Uli sass keine hundert Meter von ihr entfernt auf dem Bett seines Hotelzimmers. Auch er dachte an Anke. Er liebte sie mehr als sein Leben. Ihretwegen hatte er verbissen jeden Tag geübt. Jeden kleinen Fortschritt hatte er mit manchmal unerträglichen Schmerzen bezahlt. Aber er hatte es nicht geschafft. Nicht ganz, obwohl die Ärzte schon von einem Wunder sprachen.

Er sah aus dem Fenster. Es regnete. Nein, sie war bestimmt nicht gekommen. Und selbst wenn sie gekommen war, war sie sicher schon wieder gegangen.

Er beschloss, einen Spaziergang zu machen, wo er doch schon hier war …

Draussen spannte er mit der freien Hand seinen Schirm auf, umfasste seinen Stock fester. Fast ohne sein Zutun trugen ihn seine Schritte zur Bank.

Er ging, so schnell er konnte. Wenn Anke nun doch gekommen war? Wie hatte er sie nur so lange warten lassen können! Diese Gestalt, die dort im Regen sass, das war doch nicht sie? Doch, sie war es! Wilde Freude erfüllte ihn. Er wollte sie nur noch einmal sehen!

Er lief jetzt fast. Sein Hinken wurde stärker. Jetzt hatte Anke ihn gesehen, sprang auf, stürzte ihm entgegen. Kurz vor ihm blieb sie stehen. Die nassen Haare fielen ihr ins Gesicht. Er glaubte, noch nie eine schönere Frau gesehen zu haben. Sie sagte: “Endlich jemand mit einem Regenschirm!” Ihre Stimme klang komisch, zittrig. War es Weinen oder Lachen?

Er hielt den Schirm über sie. Sie lehnte ihr Gesicht gegen seine Schulter und flüsterte: “Danke, dass du gekommen bist!”

“Hast du den Stock gesehen? Und auch, dass ich noch hinke?”

Sie hob das Gesicht zu ihm auf: “Du brauchst keine Krücken mehr. Du hast erreicht, was du wolltest. Uli, wenn du nicht gekommen wärst, dann wäre ich gestorben. Auf der Bank vorhin, da war ich fast schon tot. Ich brauche dich zum Leben!”

“Du willst mich, auch so?” fragte er ungläubig.

“Was denkst du denn? Natürlich will ich dich! Ich werde dich nie wieder fortlassen!”

Ihre Lippen schmeckten nach Regen und glücklichen Tränen.

“Und was machen wir jetzt?” fragte er, als sie sich endlich voneinander lösten.

Sie nahm ihm den Schirm aus der Hand, und er legte seinen freien Arm um ihre Schultern. Sie schmiegte sich an ihn und lächelte spitzbübisch: “Wie wär’s, wenn wir jetzt zusammen die Schlösser an der Loire besichtigten?”

“Einverstanden, aber nur unter einer Bedingung.”

“Und die wäre?”

“Dass du in spätestens drei Monaten Frau Mertens heisst …”

ENDE