Die Salares

Von Konradek

Uyuni

Die Fahrt nach Uyuni bereits ließ erahnen, was uns erwarten sollte: Straßen, Brücken, Dämme, Häuser, Strommäste … alles wirkte wie ein leidenschaftsloser – vielleicht auch verzweifelter oder im Wissen um die Überlegenheit der Natur gleichgültiger – Versuch, und nicht wie ein ernst unternommener Vorstoß, sich inmitten einer menschenfeindlichen, unwirtlichen Umgebung niederzulassen.

Uyuni selbst wird im Lonely Planet als isoliert und weltfern beschreiben. Doch, erst als mein Fuß den unebenen Boden betrat, erst als Staub in meine Lungen drang, erst als ich die verfallenen (oder unfertigen) unverputzten Häuser in der Peripherie dieser kleinen Gemeinde und die vom Wasser weggeschwemmten Bürgersteige erblickte, wusste ich die Begriffe zu verstehen – (das Wort ›Schmerz‹ allein schmerzt niemanden …)

Was bewegt Menschen sich hier niederzulassen? Ist es allein der Ausblick auf schnelles Geld, die die zu den ›Salares‹ strömenden Touristen bringen? Wohl möglich: Hotels, Gästehäuser, Restaurants en masse. Eine Beobachtung machte ich schon in Coroico: Es ist die Ähnlichkeit und Häufigkeit bestimmter Lokalitäten und Etablissements. In dieser Stadt gab es unzählige Pizzerien. Und jede wirkte wie vom Konkurrenten dreist kopiert. Warum ausgerechnet Pizzerien? Weil einer einst damit erfolgreich gestartet!? Selbiges galt für die über 80 (! – Ausrufezeichen deswegen, weil die Stadt selbst nur 14.000 Einwohner zählte) Tour-Veranstalter zu den ›Salares‹. Jeder bot das gleiche Programm. Jeder versuchte mit – von ›begeisterten‹ Kunden handschriftlich verfassten und mit Fotos aufgehübschten – Empfehlungen, die dicht an dicht an die Schaufenster geklebt wurden, zu überzeugen, dass die jeweils eigene Agentur die Beste in der Stadt sei. Das aber diese Art der Promotion eher Skepsis beim potentiellen Kunden hervorrief, schien noch nicht hindurch gedrungen.

die ›Salares‹

Nach einer Nacht in einem gesichtslosen schäbigen Loch – kein Toilettenpier auf dem Donnerbalken, kein Licht im Bad, Schimmel an den Wänden, fensterlos, durchgelegene Matratzen, kaltes Neonlicht – ging s am nächsten Morgen in die ›Salares‹.

Zunächst besuchten wir einen alten Lok-Friedhof. Dort standen die Güterwaggons, die einst das ausgebeutete Silber aus Potosi über Uyuni Richtung Chile transportierten. Eines jedoch trübte die Stimmung: Müll, Müll, nochmals Müll und sinnloses Geschmiere à la ›ich war hier, da hat sich deine Mutter noch in die Hosen gemacht‹.

Danach ging es Richtung Salar de Uyuni, der größten und höchstgelegenen Salzwüste der Welt, welche einst ein prähistorischer Salzsee war. Bodenlose Landschaft, grenzenlose Landschaft. Die einzige Grenze bildetet das Vorstellungsvermögen. Dieses ›dort‹, wo sich Himmel und Erde berühren existierte nicht, es glich einer Vermutung. Traumlandschaft, buchstäblich. Von der Mitte des Blickfeldes zum Zenit hin, verdunkelte sich das weißliche Blau in ein tiefes, fast schon bedrohliches, Blau. Die Sonne brüllte. Der kühle Wind beschwichtige ihre Stimme. Wir wateten durch knöcheltiefes Salzwasser. Auf dem Boden trieben Wolken, und in weiter Ferne spiegelten sich 6.000 Meter hohe Giganten. Das Salz in der Luft ummantelte mich.

Unser erste Nacht verbrachten wir in einem weiteren obskuren Dorf, inmitten einer ›klösterlichen‹ Umgebung. Kalt war es. Die Sonne goss ihr Rot über die kahlen Berge, sie flutete die Gassen und zog alle erdenklichen Schatten in die Länge. Obskur dieser Ort: Kein Markt, keine Tankstelle, keine Post, aber vier Basketballplätze, die auch als Fußballplätze dienten. Sarah und ich besorgten uns eine Flasche Wein und hielten im Gästehaus unser ersten Eindrücke fest. Auf dem Flaschenrücken klebte ein Etikett mit dem Abbild Nilo Soruco Arancibias und einem seiner Gedichte. Ich trinke mit einem Poeten.

Unsere Gruppe … hm, da war ein Herr, von ungefähr 50 Jahren. Er kam aus dem Land, dass fast 90 Jahre lang zu Jugoslawien gehörte, und seit wenigen Jahren wieder politisch unabhängig ist: Montenegro. Er ist mit einer Deutschen verheiratet und verdingt sich als Security-Guide in einer Discothek im beschaulichen Hamm. Aber nein, dieser Herr erfüllt kein Klischee: Sein ursprüngliche Profession ist Jurist, nebenbei malt er, und Jahre zuvor boxte er. Und ja, er filmt gerne. Am liebsten aus dem Auto. Dann holt er seine Kamera immer raus und hält auf die Straße und spricht in leisem nüchternen Ton. Und ja, dieser Mann ist Bilinguist … aber was heißt das schon? Etwas ›sagen‹ und ›sprechen‹ sind zwei Paar Schuhe. ›Dragon‹, so sein Name, vertrat diesbezüglich eine andere Auffassung. Seine Sätze bestanden fast ausschließlich aus Auflistungen der Städte, die er alle schon gesehen hat. Dazwischen streute er in fünf, vielleicht auch sechs oder sieben verschiedenen Sprachen Ziffern hinein. Aber er benutzte sie in einer Menge, wie der Kettenraucher das Salz. Er meinte es gut, aber seine Art mit uns zu reden, verdarb uns die Lust ihm zuzuhören. Vielmehr glaube ich, hörte er sich selbst gerne zu – denn, Fragen, stellte er nie.

Um sieben Uhr in der Früh des nächsten Tages ging es Richtung Süden. In weiter Ferne thronten schneebedeckte, schroffe Gebirgsketten. Und, obwohl im Auto sitzend, begannen wieder einmal die Bilder der Natur, sich in mir in Worte zu verwandeln. Und es waren dieser Worte soviel, dass ich unruhig zu werden begann. Den Kugelschreiber konnte ich nicht halten, die Straße … die Straße … ich schrieb bereits darüber …

Unser erster Stopp war die Laguna Colorada. Uns eröffnete sich eines der schönsten Anblicke jemals: Die Lagune schimmerte rötlich, stahlblau, grau und wieder rosafarben – je nach Sonnenstrahlen. In Rufweite weilten Flamingos im Wasser. Den Rahmen dieser Szenerie bildeten buntscheckige Berge, die sich in der Lagune spiegelten und deren Kuppen weiße Hüte trugen. Auf ihnen schliefen die Schatten der Wolken. In anderer Himmelsrichtung verwischte Regen die Landschaft, wie der Daumen eine Kohlezeichnung.

Mittags hielten wir in einem Ort, der ausschließlich aus Gästehäusern bestand. Ich vertrug das Essen nicht, es war definitiv zu fettig. Aber sage einer mal seinem Hunger, er solle sich maßregeln. Ich bekam Bauchschmerzen. Wie dem auch sei, nach dem Essen setzten wir uns in den Jeep und besuchten Geysire auf über 5.000 Meter Höhe. Mondlandschaft. Krater. Überall dampfte, spie und zischte es. Es roch nach faulen Eiern.

Mein Magenschmerzen verstärkten sich, ich fühlte Messerklingen im Bauch. Ich wurde zunehmend schwach. Wir fuhren weiter und besuchten die allerherrlichsten heißen Bäder. Einmal mehr zeigte sich die Natur als der geschmackssicherste Schöpfer: Wir stiegen in 45° heißes Wasser. Der Grund der Quelle war schwarzer Kies, der so schön die Fußsohlen balsamierte. Im Hintergrund schimmerte eine türkisfarbene See, an deren Ufer gelbes und grünes Hochlandgras sprießte. Am Horizont ragten Vulkane. Lamas grasten – ungestört neben uns. Danach musste ich im Jeep liegen, meine Schmerzen wurde unerträglich. Eine Umkehr wollte ich den anderen nicht antun. Wir fuhren zuletzt zur Laguna Verde, an dessen gegenüberliegendem Gestade der – leider wolkenverhangene – Vulkan Licancabur sich erhob, 5.900 Meter hoch. Welch Naturschauspiel.

Abends kehrten wir ins Gästehaus zurück. Ich legte mich sofort ins Bett. Und bekam Fieber, Schüttelfrost. Dann begann ich zu kotzen. Bis in die Nacht. Bis der Druck mir Tränen aus den Augen wrang. Bis nur noch Wasser aus mir brach. Die Tabletten gegen Höhenkrankheit wirkten nicht, der Koka-Tee ebenso. Sarah sagte später, ich wäre im Delirium gewesen. Ich hätte Melodien hingesummt und Stimmen im Flur gehört. Am nächsten morgen kroch ich zitternd aus dem Bett. Das Pissen schmerzte. Mein Körper war dehydriert. Meine Lippen waren gerissen, blutig. Dennoch, es ging mir besser, etwas besser. Ich hatte keinen Hunger. Nur Appetit auf Obst – auf Äpfel, Melonen, Orangen.

Was blieb mir anderes übrig, als in den Jeep zu steigen? Alberto, unser Führer, sagte, dass es von jetzt an nur noch bergab ging. Mein Befinden machte mich blind für die einmalige Landschaft. Ich schaute apathisch aus dem Fenster und versuchte zu schlafen. Nur die folgende Bilder waren so vehement, dass sie mich aus dem Jeep tragen konnten: Der ›Berg der sieben Farben‹, der ›Arbol de Piedra‹ und das ›Tal der Steine‹ …

In Uyuni zurück, erholte ich mich schnell. Abends ging ich mit Sarah essen: Ein Amerikaner hat sich hier sesshaft gemacht und eine Pizzeria eröffnet. Mein Hunger war grenzenlos. Es war die beste Pizza seit Monaten, auch Sarah – ein Feinschmecker – war hingerissen. Nach drei Wochen gemeinsamen Reisens trennten sich Sarahs und mein Weg. Ich blieb eine weitere Nacht.