Neulich bin ich in einem Buch wieder auf diesen Mythos gestossen. Das Buch roch geheimnisvoll, aber das lag nur am Staub, der sich darauf angesammelt hatte. Hast Du auch schon von ihm gehört, vom silbernen Faden?
Der silberne Faden
Ein weit verbreitetes Mysterium unter den Menschen … ein Faden, der die Seele mit dem Körper zusammenhält! Wenn der Faden zerreisst, dann ist der Mensch tot. Zumindest aus der Sicht der andern Menschen. Der Sensenmann schneidet den Faden durch, und Hellsichtige können ihn sehen, den Silberfaden. In der Nahtoderfahrung wird von ihm erzählt und selbst in Sagen kommt er vor. Der silberne Faden.
Der Schlaf ist der kleine Tod.
Ich hatte kürzlich einen geheimnisvollen Traum. Ich sah das blaue Band. Das blaue Band, welches den Körper mit dem Wachsein verbindet – wie ein Ruderboot, das mit einem Strick am Steg angebunden ist. Und wenn der Strick gelöst wird, treibt das Ruderboot auf dem See herum. Auf dem Traumsee. Manchmal ereignislos einfach so, manchmal hat es ein paar Fische die nach Mücken springen, und manchmal greift das Loch Ness nach dem Boot.
Das blaue Band
Wenn man schläft, wird also der blaue Faden zerrissen. Dann treibst Du auf dem See der Träume bis das Morgenrot ein neues Band entstehen lässt. Und wenn man aufwacht, ist wieder ein neues blaues Band gewoben, das einen am Steg des Alltags festknüpft.
Wenn Du einschlafen willst, musst Du einfach dafür sorgen, dass das blaue Band zerrissen wird. Wenn das aber so einfach wäre! Wenn wir nämlich versuchen einzuschlafen, dann beginnt das blaue Band zu zittern. Das Band merkt, dass sich was tut. Je fester man versucht einzuschlafen, umso stärker zittert es, und dadurch wird das Band fester gezurrt. Das ist genau so, wie wenn Du in der dukeln Wohnung glaubst, Schritte zu hören. Dann kannst Du auch nicht einschlafen. Ebenso kann das Band nicht zerreissen, wenn es zittert.
Was tun? Du musst geizig werden! Geizig mit den Bändern: Was ist das doch für eine Verschwendung, diese ganzen zerrissenen Bänder, die Nacht für Nacht erneuert werden müssen?! Es gilt alles daran zu setzten, dass die Bänder erhalten bleiben. Sieben Milliarden Menschen die jeden Abend einschlafen wollen, also im Schnitt jede Sekunde achtzigtausend Bänder, die da zerreissen – das musst du verhindern.
Wach bleiben!
Und es wurde übrigens schon viel getan dafür, dass die Bänder nicht so leicht zerreissen. Es wurden Motorräder erfunden, die nachts um zehn dröhnen, es wurden Wohnungen an Kreuzungen gebaut, wo die Autos laut anfahren, es wurden mufflige Vorhänge in Hotelzimmer gehängt, damit man nicht so schnell einschläft, es wurden Fernseher erfunden, damit man da reingucken kann, und sich wach hält, es wurden Chefs erfunden, die allein nur durch den Gedanken an sie das zerreissen des Bandes verhindern. Unternimm also auch Du etwas dagegen, damit nicht mehr so viele Bänder zerreissen, damit die Menschen wach bleiben.
Der Schnee rutscht
Dann wird es so sein wie mit dem Schnee auf dem grossen, steilen Dach vom Bauernhaus. Er liegt und versucht sich festzuhalten, denn es gefällt ihm dort. Aber unter dem Dach ist die Bauersfrau am Heizen und am Brot backen. Ganz langsam werden die Ziegel warm und unscheinbar schmilzt eine dünne Schicht Schnee. Das Dach wird rutschig. Irgendwann, vielleicht wenn gerade eine Katze vorbeigeht oder wenn sich ein Vogel auf den Giebel setzt beginnt der Schnee zu rutschen und reisst seine Kumpels mit, stürzt über die Dachrinne und dann in die weisse Tiefe – das blaue Band ist zerrissen und Dein Boot treibt wieder auf dem See der Träume.
Und, so leid es mir tut, es braucht für den nächsten Morgen ein neues blaues Band, um das Boot der Seele für eine Weile wieder an den knorrigen Steg des neuen Wachseins zu knüpfen.
