Die Rückkehr von Platten- und Buchläden

Am zweiten Weihnachtstag fuhr ich mit dem Auto nach Dortmund und hörte Radio1. Der Moderator, ein DJ und Musikfreak alter Schule, interviewte einen anderen Musikfreak: Stell Dir vor, in England gibt es wieder Plattenläden, in die man geht, um mit seinem Musikgeschmack weiterzukommen. Das Thema iTunes habe sich allmählich erledigt.
Man wolle aus dem Musikhören wieder was Lebendiges machen, Gleichinteressierte treffen, sich Tipps vom Plattenladenbetreiber holen. (mein früherer Plattenladen in Dortmund ein: LIFE in der Dyckhoffpassage und für Bootlegs ein paar Läden im Kreuzviertel, Möllerbrücke und Umgebung.) Die Empfehlungsalgorithmen auf iTunes haben uns nicht weiter gebracht und man sei unterm iPod vereinsamt. (Zu Schul- und Unizeiten: Tüten voller Platten mitbringen, um sie Freunden zu leihen und im Gegenzug deren Tips mit nach Hause zu nehmen. Heute gilt so eine verkaufsförderende Maßnahme als Piraterie.)
Ok, iTunes legalisierte MP3s und machte Onlinemusik benutzbar. Wir sparten Regalmeter für Platten, CDs und die Stereoanlage. Im Schrank brauchen wir auch keine Reihe mehr für Fotoalben und Dias. Wir gewannen eine ganze Wand im Wohnzimmer für neue Zwecke. Und wenn mit den ebooks jetzt das gleiche passiert und danach der Fernseher durch Google Glasses ersetzt wird, brauchen wir gar kein Wohnzimmer mehr.
Dann sind wir smart. Was so viel heißt wie: Unseren Geschmack entwickeln wir anhand von Algorithmen weiter.
Und genau dann kippt es wieder um: Wir merken, dass Effizienz öde ist und einsam macht. Dann eröffnen auch in Berlin und im Ruhrgebiet wieder Buch- und Plattenläden.
Aber auch das Medium selbst wird wieder wichtig: Vinyl ist angesagt, und auch Musikcassetten. Ich ergänze: Einen alten, offenen HD-Kopfhörer von Sennheiser braucht man dann auch wieder. Der harte Bassdrumkicksound ist nicht mehr so mein Ding. Gut, dass ich unsere alten Platten, den Grundigplattenspieler und die Cantonboxen vor unserem Umzug nach Mitte damals verkauft habe..  oh, Mann.
Und auch im Radio tut sich was. Abends laufen wieder Programme mit richtigen Moderatoren, sowohl im RBB als auch bei Privaten.
Mir wird klar, dass Moderatoren und Händler für eine funktionierende Szene wichtig sind. Als Kulturkonsument brauche ich einen Reiseleiter. Ich will mich nicht komplett lenken lassen, aber ich will wissen, was es Neues gibt und was davon die Evolution meines Geschmackes sein kann. Ich bin mit meinem knappen Zeitbudget damit überfordert. Die liberale Vorstellung, ich könne meine Wahl selbst und souverän treffen, ist naiv, weil die Annahme, mir lägen dafür alle Informationen vor, falsch ist.
Hier eine gegoogelte Top10 von Berliner Plattenläden: Link

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