Die Rückkehr des “gesunden Volksempfindens”

Der Fall Sami A. ist in aller Munde. Gerichte streiten sich, Regierungen übertölpeln die Justiz mit billigen Tricks, und jetzt plädiert ein CDU-Innenminister für die Rückkehr des “gesunden Volksempfindens”. Aus der Angst vor zunehmender rechter Radikalität heraus eilt man eben dieser Radikalität gehorsam voraus.

Wieder ist ein Tabu gebrochen, wieder eine rote Linie überschritten. Aus dem Rechtsstaat wird langsam der Staat, in dem das dumpfe, brodelnde Massenempfinden, das so einfach künstlich anzuheizen ist, für Gerichtsentscheidungen ausschlaggebend ist. So war es zum Beispiel im Juli 1934 nach dem sogenannten Röhm-Putsch. In den Augen der nationalsozialistisch manipulierten Öffentlichkeit hatte der Führer gerecht und hart durchgegriffen und dem Volk den inneren Frieden geschenkt. Kurz darauf änderten die Nazis sogar das Strafgesetz, dass den wie auch immer festgestellten “Volkswillen” zum Maßstab gerichtlicher Entscheidungen machte.

Und so beginnt es auch diesmal wieder zu werden.

Sami A. ist ein Islamist. Möglicherweise war er Leibwächter Osama Binladens. Er ist Tunesier und lebte in Bochum. Seit Jahren versuchte er, ein Bleiberecht in Deutschland zu erstreiten, weil ihm in seinem Heimatland nach eigener Aussage die Folter drohe. Mitte Juli 2018 bestätigte das Verwaltungsgericht Münster, dass er nicht abzuschieben sei, weil eben nicht sicher sei, dass er nicht gefoltert werden würde. Bochum und die CDU-FDP-Landesregierung wollten A. aber unbedingt los werden. Sie verschwiegen dem Gericht den festgesetzten Abschiebetermin und vollstreckten die Abschiebung, obwohl der Gerichtsbeschluss einen Tag vorher ergangen war. Am 15. August ordnete das Oberverwaltungsgericht in Gelsenkirchen nun an, dass A. nach Deutschland zurückgeholt werden müsse. Die Reaktion des NRW-Innenministers Herbert Reul, CDU, lautete: “Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut. Aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen. Ich zweifle, ob das bei diesem Beschluss der Fall ist. Wenn die Bürgerinnen und Bürger Gerichtsentscheidungen nicht mehr verstehen, ist das Wasser auf die Mühlen der Extremen.”

Diese Aussage, in den Medien oft etwas verkürzt wiedergegeben, schlug bei der NRW-Opposition hohe Wellen, aber auch im Medienrauschen. Wenn das Gesetz sogar solche Terroristen wie A. schütze, dann müssten diese Gesetze eben geändert werden, höre ich seither immer wieder. Das entspricht eben jenem sogenannten “gesunden Volksempfinden”, das ich kritisiere.

Müssen Richter das Rechtsempfinden des Volkes berücksichtigen? Und: Wer legt dieses Rechtsempfinden fest? Wie wird es ermittelt? – Nein! Richter müssen den Gesetzen Geltung verschaffen. Zunächst dem Grundgesetz, den Grundrechten und allen anderen jeweils relevanten Vorschriften, die vom Parlament, der Vertretung des Volkes, in dessen Namen und zu dessen Wohl erlassen wurden.

Ein Rechtsstaat ist ein Staat, in dem sich alle darauf verlassen können, dass für jeden Einzelnen dieselben Vorschriften gelten. Wenn man morgen die Öffentlichkeit gegen Frauen, katholische Priester, Homosexuelle, CDU-Spitzenkandidaten, AFD-Anhänger oder schwäbelnde MitbürgerInnen aufhetzt, und wenn sie dann den Schutz des Rechtes entzogen bekommen, welchen Wert hat dann noch unsere Sicherheit? Worauf können wir uns dann noch verlassen? Entweder, die Garantien des Rechtsstaates gelten für alle, oder sie haben keinen Sinn. Rechtssätze gelten eben genau deshalb allgemein, damit sie nicht von einer Welle momentaner Stimmungen beeinflusst werden, und damit alle, die rechtmäßig in einem Land leben, sich darauf verlassen können.

Natürlich gelingt das mal besser und mal schlechter, aber das “gesunde Volksempfinden” darf unter keinen Umständen ein Kriterium der Rechtsprechung sein. Insofern ist das Entsetzen über die Äußerung Reuls absolut verständlich und angebracht. Dabei geht es mir nicht um Sami A. persönlich, um das noch einmal deutlich zu sagen. Der ist wahrscheinlich ein Terrorist, der die deutsche Humanität und menschenrechtsfreundliche Grundhaltung der Gesetze ausnutzt, um trotz seiner möglichen Taten hier leben zu können. Doch unsere Regeln, die für jedermann gelten, besagen, dass nicht abgeschoben wird, wer möglicherweise in seiner Heimat Folter zu gewärtigen hat. Nur darum geht es, und in einem Rechtsstaat ist kein sachfremdes “aber…” zulässig.

Doch Reuls Aussage ist tiefsinniger, als man sie auf den ersten Blick wahrnimmt. Sie drückt eine Verzweiflung und eine Angst aus, die derzeit das Sinnbild unserer Gesellschaft darstellt: Die Angst vor dem unkontrollierbaren Rechtsruck, der rechtlosen Massen- und Volksherrschaft der Wutbürger. Es geht ihm darum, mit seiner Richterschelte den Tiger zu bändigen, und er wirbt um Verständnis, dass unverständliche Gerichtsentscheidungen die Extremen stärken. Sicher: Er leistet dem selbst vorschub, indem er sich vor den Karren der AfD und der menschenverachtenden Fremdenhasser spannen lässt, aber er tut es wohl, weil er keinen anderen Ausweg sieht. Seine Argumentation lautet: “Wenn unsere Gerichtsentscheidungen sich nicht mehr an dem Gerechtigkeitsempfinden der Massen orientieren, dann laufen sie uns noch weiter davon und schließen sich den extrem Rechten an.” Oder überspitzt gesagt: “Geben wir ihnen ein wenig nach, vielleicht können wir dann wenigstens einige Rechtsprinzipien retten.”

Diese Angst und diese Denkweise sagt viel aus über den Zustand unserer politischen Kaste. Noch immer ist man in den Parlamenten und den Regierungen wie gelähmt, noch immer hat man kein Mittel gefunden, mit der unaufhaltsam stärker werdenden Flut von rechts umzugehen. Was immer man sagt oder tut, sie schwillt weiter an, sie scheint unaufhaltsam. Nur mit dem einen Mittel hat man es noch nicht probiert, der Standhaftigkeit, der Klarheit der eigenen, demokratischen Gesinnung, der Wehrhaftigkeit unserer Demokratie. Um die Demokratie wehrhaft zu machen, müsste man ja die Freiheitsrechte stärken, also ganz bewusst gegen die Volksstimmung handeln und die neuen, unverhältnismäßigen Polizeigesetze fallen lassen, müsste den Verfassungsschutz auflösen oder mindestens in seine Schranken weisen, müsste den Bannfluch aufheben, den man einst über die Linke gesprochen hat und müsste vor allem den undemokratischen, rechten Geist bekämpfen, der sich in Regierungen, Gerichten, Behörden und Sicherheitsorganen breit gemacht hat. Man müsste aufstehen für den Rechtsstaat und die freiheitlich-demokratische Grundordnung, müsste die Werte aktiv verteidigen, die so gut klingen, solange es Sonntag ist und sie nicht bedroht sind. Für genau solche Momente wie jetzt wurde die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie erfunden! Die Regierung steht in der Pflicht, rechtes Treiben nicht mehr als Bagatelle abzutun, sondern klar Stellung zu beziehen für die Werte, die wir haben. Wenn man dann zusätzlich auch noch in Infrastruktur, Bildung, Wohnungsbau und soziale Sicherheit investiert, und zwar genügend und nachhaltig, wenn man den Klimawandel ernst nimmt und versucht, den Menschen die Probleme zu vermitteln, wenn man selbst mit klaren Haltungen voran geht, dann hat man gerade in einer repräsentativen Demokratie eine gute Chance, die Menschen zurück zu gewinnen, denn bis zur nächsten Wahl sind es noch drei Jahre. Angsterfülltes Zurückweichen, und dann auch noch verbunden mit nationalsozialistisch klingenden Formulierungen und Ansichten, sind meiner Ansicht nach genau der falsche, ja der fatalst mögliche Weg.

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