Die Rolle der Agenda 2010 und Lohnentwicklung für die Euro-Krise


Von Tobias Fuentes
Viele Themen und Aufreger sind diese Woche wieder aufgelaufen, die es demnächst abzuarbeiten gilt. Großes Thema war der zehnjährige Jahrestag der Agenda 2010. Hier ranken sich viele Mythen über die Relevanz der Agenda für die wirtschaftliche Erholung Deutschlands und über die deutsche "Schuld" an der Euro-Krise. Mit Verweis auf einige aktuelle Artikel möchte ich manche Missverständnisse und Meinungsverschiedenheiten verdeutlichen. In den Kommentaren zu meinem Austeritäts-Beitrag vom 27.2. wurde dem auch schon näher nachgegangen.
Gustav Horn im Cicero vom 13.3. etwa bezweifelt, dass unsere gute Beschäftigungsentwicklung seit 2005 auf die Agenda zurückginge. Es sei ein allgemeiner (europa- oder weltweiter) wirtschaftlicher Boom gewesen, von dem wir mitprofitierten, und nach der Finanzkrise (als es das "eigentliche deutsche Arbeitsmarktwunder" gab) seien flexiblere Arbeitszeiten und Kurzarbeit für die Genesung verantwortlich: "Es war also nicht die Agenda, sondern die Arbeitsmarktreformen von unten." Vielfach wird der derzeitige deutsche Boom in der Euro-Krise aber schlicht mit der Agenda, mit strukturellen Reformen, erklärt ... oder man steht ratlos vor Deutschlands plötzlicher Stärke. Als Marxist sieht der wortgewaltige Tomasz Konicz in der Krise selbstredend das Ende der Fahnenstange ...  ... "dass der Kapitalismus offensichtlich ohne permanente Schuldenbildung nicht mehr funktionsfähig ist". Er verweist abstrakt auf den Zusammenhang zwischen unserer deutscher Exportbilanz und der Verschuldung der Krisenländer, auf "kreditfinanzierte Nachfrage", ohne den Mechanismus näher beschreiben zu wollen.
Die Agenda ist nachrangig
Nein, für unsere Erholung war die Agenda 2010 tatsächlich nur nachrangig. Sie war eine Notlösung im Rahmen deutscher Massenarbeitslosigkeit zu Zeiten Rot-Grüns und vor der Euro-Krise. Wir profitieren durch allerlei ausgelöster Flexibilität und Lohnspreizung zwar heute auch von ihr, aber wäre die Finanzkrise (an die sich die Euro-Krise zwingend anschloss) schon 2003 über uns gekommen, hätten wir die Agenda nicht gebraucht - wir würden heute (unterstellt die Exportunterschiede wären ähnlich eklatant groß wie 2007) auch ohne sie boomen, nur etwas schwächer. Warum?
"Die Kapitalbilanz regiert die Leistungsbilanz." Grundsätzlich gilt: Kapital sucht sich die rentabelsten Anlagen und Standorte. Durch Kapitalverkehrsfreiheit, also etwa auch durch die gescholtene Liberalisierung, geht das heute noch besser und schneller. Kapital ergibt sich durch Ersparnisbildung. In unserem Geldsystem, einem Schuldgeldsystem, erfolgt die Kreditvergabe technisch nicht vollumfänglich aus zuvor angespartem Kapital, das Banken nur weiterverleihen. Geld wird durch Kreditvergabe jeweils geschaffen (und später wieder bei Tilgung und Weiterreichung an die Zentralbanken vernichtet). Der Knackpunkt dabei ist: Geldschöpfung schafft nur Geld, keine Nachfrage. Nachfrage "korrespondiert" immer noch mit Ersparnissen. Das kann man eindrucksvoll im Rahmen des Euros und durch seine Euro-Krise beobachten. Aber der Reihe nach, insb. hab ich das auch hier anschaulicher dargestellt.
Die Relevanz der Kapitalströme
Zentralbanken regen durch Geldpolitik (Leitzins, Aufkauf von Staatsanleihen usw.) die Kreditvergabe an. Aber ... das ist nicht die einzige Quelle und ultimativer Ausgangspunkt von Verschuldungsprozessen. Das Kreditangebotsverhalten von Banken und der "Liquiditätsausgleich" unter Banken (im sog. Interbankenhandel) spielt gleichwohl eine gewichtige Rolle. Durch den Euro wurde diese Rolle noch bedeutender. Die vorhandene Geldschwemme wälzte sich nach Süden, das heißt südländische Banken kamen durch den Euro plötzlich untereinander (über Kapitaltransfers) zu einfacheren Krediten, vermehrter Liquidität, verringertem Liquiditätsrisiko, was zu expansiverem Kreditangebotsverhalten führte, unabhängig vom Verhalten der Zentralbanken und ihrer sog. Geldbasis, die (normalerweise) Grundlage der Geldschöpfung ist. Banken sind unterschiedlich spezialisiert, manche sammeln Kapital ein, andere kurbeln damit den Kreditvergabeprozess an. So floss deutsches Kapital vor allem zu französischen und italienischen Banken, die dadurch gegenüber anderen Südländern ihr Kreditangebot wieder ausweiten konnten. Korrespondierend: Südländische Unternehmen und Private hatten großen Nachholbedarf an Verschuldung (Kreditnachfrage), etwa in Spanien über den Immobiliensektor. Zwischen 2002 und 2007 gingen von der deutschen gesamtwirtschaftlichen Ersparnis in Höhe von 930 Mrd. Euro netto 67 Mrd. als Direktinvestitionen (7%) und 413 Mrd. über Finanzmärkte ins Ausland (44% und diese sind hier relevant) - Statistisches Bundesamt, Abbildung 2.4 in Hans-Werner Sinns Target-Falle (S. 58).
So verlor Deutschland Kapital, ohne dass wir was dagegen hätten tun können. Mit dem Kapital floss Nachfrage ab, wir hatten - spiegelbildlich - automatisch weniger Investitionen, Kredite und Lohnsteigerungen ... man bedenke: unsere Lohnzurückhaltung wurde nicht durch plötzliche Gier der Unternehmer erzwungen, sondern war ihrerseits den nachfrageseitigen Umständen geschuldet. Durch die Aufwertung der D-Mark und expansive Lohnpolitik der frühen 90er hatte sich zuvor schon unsere angebotsseitige Struktur verschlechtert, womit der Aufbau der Massenarbeitslosigkeit fortschritt, und als Folge (!) die Agenda 2010 initiiert wurde, um zu retten, was noch zu retten ist.
Denn ... eine verstärkte staatliche Ausgabenpolitik (Fiskalpolitik) oder eine forcierte Arbeitsmarktpolitik (hohe Lohnsteigerungen) hätten diese Kapitalströme seit dem Euro nicht (adäquat) aufhalten können. Die Südländer hatten ihre nachfrageinduzierte Inflation (Nachfrage durch unsere Ersparnis). Politisch oder gewerkschaftlich erzwungene deutsche Lohnsteigerungen hätten bei uns allenfalls eine kostenbasierte Inflation ausgelöst (Kosten, weil fehlende Ersparnis und fehlende Nachfrage). Eine kostenbasierte Inflation schafft Arbeitslosigkeit, bekannt ist die Stagflation der 70er (sog. Angebotssschocks, Ölpreisschocks von 1973 und 1979). Keynesianer argumentieren sodann verlegen, das Maß der nötigen Inflation hätte sich nur nach oben verschoben ("die Phillipskurve verlagert sich nach rechts oben"). Aber bei außenwirtschaftlichen Kapitalströmen ... scheitert eine solche Erkärung. Hier versagt die Nachfragetheorie. Man bräuchte eine Wirtschafts"koordination", die Kapitalströme stoppt, die die Kreditvergabe in den Südländern rationiert ... dessen ist man sich vielfach gar nicht bewusst ... und wie soll das etwa im Falle Spaniens gehen: man müsste Baukredite rationieren. Staatliche Ausgabenpolitik mag noch beherrschbar sein, aber wie private Verschuldung?
Wer argumentiert, Deutschland hätte durch die Agenda und Lohnzurückhaltung die Ungleichgewichte verschärft, hat recht. Das Problem: wir hatten keine Wahl. Es war der Euro, der Kapitalströme ausgelöst und dadurch unseren Spielraum für Lohnsteigerungen auf Null reduzierte. Ohne Euro hätten wir nicht diesen exzessiven Kapitalabfluss gehabt, der die allseits gewünschte beschäftigungserhöhnde nachfrageinduzierte Inflation aus Deutschland in den Süden verlagerte. Normalerweise, ohne Euro, wären Kapitalflüsse in "marktkonforme" Bahnen gelenkt worden. Südländer hätten nur insofern von unserer Ersparnis profitieren können, wie es ihre wirtschaftliche Angebotssituation erlaubte, um sodann eigene Ersparnis aufzubauen. Es wäre gar nicht erst zur Katastrophe, dem Point of no return, den schlagartig steigenden Zinsen und der Kapitalflucht gekommen. Aber der Euro hat diese marktimmanenten Bremsen gelöst, er hat mit einem Schlag diese Kapitalströme bewirkt (neben den durch die Gemeinschaftswährung ohnehin bezweckten Zinsangleichungen über Geldpolitik). Die damit einhergehenden Kreditvergaben waren "Vorschusslorbeeren", die die Krisenländer verfrühstückt / konsumiert haben. Sowohl die Kapitalströme, das ausgeweitete Kreditangebotsverhalten, als auch der Nachholbedarf der Südländer, wie der Immobilienboom Spaniens, ist einzig durch vielfache Staatsinterventionen erklärbar.
Leistungsbilanzungleichgewichte bauen sich automatisch ab
Heute, in der Euro-Krise, schwappt das Kapital wieder nach Deutschland bzw. bleibt gleich bei uns. Jetzt haben wir notgedrungen ganz automatisch den gesamten Spielraum für höhere Löhne und Investitionen. Jetzt bekommen wir unsere beschäftigungsfördernde Inflation, die nun eine nachfrageinduzierte ist, die unsere Exportüberschüsse langsam schrumpfen lässt und die die Leistungsbilanzungleichgewichte ausgleicht - leider zu langsam für die Südländer - und auch nur bis zur (mehr oder weniger gravierenden) kommenden Eskalation der Euro-Krise. Dies gilt jedenfalls insoweit, wie man Austerität in den Krisenländern (Lohn- und Preissenkungen) wirken lässt, was einerseits sehr zäh ist und andererseits mit unserer Art der Rettungsmaßnahmen konterkariert wird. Aber nochmal: die Krise ist nicht die Schuld der Agenda und der Lohnzurückhaltung, sondern in erster Linie die des Euros. Nachwievor ist Austerität und eine Agenda-Politik in den Krisenländern erforderlich (als einzige Alternative zu Schuldenschnitt und Euro-Austritt, was hingegen zu bevorzugen ist, um das nochmal klarzustellen), aber das würde nicht gemeinsam mit uns in eine Abwärtsspirale münden. Auch ist die Rhetorik, nicht alle Länder können Exportüberschüsse einfahren und daher seien Agenda-Reformen Unsinn, fehl am Platz ... eine solche Abwärtsspirale ist schlicht ausgeschlossen, und dies ist augenscheinig für den, der die Relevanz und Wirkungen von Kapitalströmen kennt und beachtet.


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