Die Republik im Fadenkreuz

Erstellt am 10. Oktober 2011 von Newssquared @Oliver_schreibt

Die Republik im Fadenkreuz

Ort des Geschehens: die provinzielle Idylle Bad Herrenalbs. Täter und Komplizen: Wissenschaftler, Krimiforscher, interessierte Laien alias Tatort-Gucker. Fragestellung: Bis zu 11,8 Millionen Bürger sitzen sonntagabends vor dem Fernseher und schauen Tatort. Was ist bloß ihr Motiv? Warum sind sie so fasziniert von diesen Geschichten um Mord, Totschlag und andere Verbrechen? So «geblendet», sagt Gustav Frank. «Verzaubert. Verhext.» Der Münchner Literatur- und Kulturwissenschaftler bezieht sich dabei auf die Bedeutung des lateinischen Ursprungswortes «fascinare».

«Im Tatort geht es nicht um Mord. Im Tatort geht es um Moral», so seine grundlegende These. «Um Normen und Normalitäten.» Nicht umsonst heißt es seit jeher, dass der Tatort ein Sittenbild des Landes zeichnet, zumindest skizziert. Indem er Unbekanntes bekannt macht, Unsichtbares sichtbar. «Er dient als Indikator für die Wirklichkeit und lässt Denkmöglichkeiten zu», ergänzt Frank. Abstraktes wird in lebensweltliche Verhältnisse gesetzt, Parallelwelten tun sich auf.

Die anderthalbstündigen Ermittlungen seien mehr Milieustudien denn Kriminalfälle. Weniger spannende Ereignis- denn alltägliche Mentalitätsgeschichten, die den schleichenden Wandel der Gesellschaft beleuchten und die kulturgeschichtliche Entwicklung der Republik widerspiegeln, gar mitgestalten. Darin sind sich die sechs angereisten Wissenschaftler und Krimiforscher einig. Der Tatort könne Themen setzen oder verstärken. Was in der langlebigsten Kriminalfilmreihe des deutschen Fernsehens angesprochen wird, sei von Bedeutung.

Oder wie es der emeritierte Professor Jochen Vogt von der Universität Duisburg-Essen bewusst klischeehaft formuliert: «Wer Deutschland verstehen will, muss Tatort gucken.» Der Literaturwissenschaftler spricht von einer «gesamtdeutschen Landkarte als Thriller», auf der soziale und regionale Realitäten, längerfristige Tendenzen und Konflikte abgebildet werden, und die zugleich als Chronik der vergangenen 41 Jahre dient.

«Zu der eigentlichen Fallgeschichte kommt dann jeweils eine Menge Füllsel hinzu», erläutert Vogt mit Hilfe einer Küchenvokabel. Und eben dieses Füllsel, also die Füllung einer Weihnachtsgans etwa, verleihe der Geschichte erst seinen besonderen, ganz eigenen Charakter.

Hochglanzfassaden statt Lokalkolorit

Aufklärung, Realismus, Aktualität und Regionalität: Diese vier Begriffe werden immer wieder genannt, um die traditionsreiche Fernsehreihe grundlegend zu charakterisieren. Wobei die Wissenschaftler ihr Augenmerk verstärkt auf letzteren legen, als bedeutsames und reizvolles Alleinstellungsmerkmal des Formats. So bezeichnet Stefan Scherer, Professor für Literaturwissenschaften aus Karlsruhe und Initiator der Tatort-Tagung, die Krimis als «Länderspiegel mit Leichen». Den Anstoß zum dreitägigen Kombinieren hatten die Evangelische Akademie Baden und das Karlsruhe Institut für Technologie gegeben: unter dem Titel «Republik im Fadenkreuz – Der Tatort als Mentalitätsgeschichte der BRD».

Der Tatort ist «das letzte kollektive Erlebnis, das die gesamte bundesrepublikanische Gesellschaft erreicht». Erreichen soll. Deshalb muss das Format gewissen Mustern folgen. «Diese Filme sind für alle gedacht, jeder soll sie verstehen», betont Scherer. «Sie dürfen den Gebührenzahler nicht überfordern.»

Nicht zu kompliziert sein also. Böse Stimmen könnten auch sagen, dass der geneigte Tatort-Zuschauer zu bequem ist. Wie sonst ließe sich erklären, dass ein derart außergewöhnlicher Ermittler wie der Hamburger Cenk Batu in der Gunst des Publikums durchgefallen ist? Dies besagen jedenfalls die Quoten.

Dabei sei der Tatort jedoch nie wirklich Mainstream gewesen und habe schon immer etwas gewagt. «Vor allem in den 2000er Jahren spielt die Grenzvermessung eine immer noch größere Rolle», betont Gustav Frank.

Zudem werden seit dem Milleniumswechsel die Ermittlerfiguren zunehmend wichtiger. Sie sind persönlich betroffen, emotional involviert. Die eigentlichen Fälle geraten mitunter gänzlich zur Nebensache. Darüber hinaus geht durch die Konzentration auf die unterschiedlichen, sehr eigenen Charaktere die regionale Prägung verloren. Obwohl die Handlungsorte zugleich vermehrt aus den Metropolen der Bundesländer in die Provinz verlagert werden.

Andernorts ist es indes gar nicht mehr erkennbar, «ob die Hochglanzfassaden aus Glas und Stahl der weltweit agierenden Wirtschaftsunternehmen in Stuttgart, Leipzig oder Berlin stehen», merkt eine Teilnehmerin der Tagung kritisch und voller Bedenken an. Aber so ist das heutzutage nun einmal.

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«Tatort» – Die Republik im Fadenkreuz

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