Die Reise nach Süden (Verlorene Bezirke)

Von Qohelet17

Eigentlich hätte es ja nur eine schnelle Reparatur sein sollen. Der Kofferraum fiel, wenn es ihm zu kalt war von alleine zu und seit Schnee und Eis meinen Wagen zugesetzt haben wehrte sich der Scheibenwischer ein wenig.

Mein Onkel Hubert, der diese Kleinigkeiten wieder in Ordnung bringen sollte rief mich kurz nachdem er das Auto unter die Lupe genommen hatte an und meinte: „Der Motor ist kaputt“.
In dem Moment erstarrte ich vor Schreck. Ich bin bisher immer nur Diesel gefahren – aber ich kann doch keinen Benziner innerhalb so kurzer Zeit schrotten?
„… der Scheibenwischermotor“ fügte mein Onkel hinzu. Erleichterung. Gerade war keiner lagernd, aber bis morgen würde einer kommen. „Und sonst passt alles?“ „Ja, aber ohne Wischer kannst du im Winter nicht fahren.“
Wenigstens war das nur das kleinere Übel, ein defekter Motor hätte mir gerade noch gefehlt. Am Abend musste ich in die Landeshauptstadt Innsbruck und auf der Rückfahrt nieselte es leicht. Wenn es wirklich nur Dreck gewesen wäre, dann hätte sich der Motor jetzt selbst repariert. Stattdessen fiel er gänzlich aus. Als der Nieselregen vorbei war.
Glück im Unglück.

Innsbruck bei Nacht

Zumindest konnte ich am kommenden Tag zurück nach Osttirol. In Kufstein hatten wir heiteres Wetter über dem Gefrierpunkt – in den Nachrichten sprach man davon, dass die Felbertauernstraße nur mit Ketten befahrbar sei. Aber sie war offen – das war wichtig. Während die Sonnenstrahlen durch das Fenster lächelten konnte ich nicht ganz begreifen, was sich auf der Südalpenseite abspielte.
Mein Vater rief mich an und erzählte von Schneegestöber und Befürchtung auf über einem Meter Niederschlag im Laufe des Tages.

Kapitel 1: Sonne, Regen und Schnee

Onkel Toni, der ein Häuschen in St. Stefan im Gailtal besitzt wurde auch etwas unruhig, als im Fernsehen laufend Bilder vom Gefahrengebiet gezeigt wurden. Am Abend sollte es zu regnen beginnen und der Schnee würde an Gewicht zunehmen. Ob das Dach diesem Schwamm standhielt war unklar.
Hubert rief wieder an – der Lieferant hatte den Scheibenwischermotor irgendwohin gebracht. Gerade hätten sie einige andere Betriebe angerufen, aber keiner wusste von dem verschollenen Paket. Damit war mein Geländewagen inklusive Allrad nutzlos. Welch Ironie, dass selbst ein sehr robustes Auto nichts bringt, wenn etwas Banales wie der Scheibenwischer aussetzt.
Die ganze Sache machte mich nervös. Zwar wäre es kein Problem gewesen, bis Montag in Kufstein zu bleiben, doch behagte mir der „verlängerte Urlaub“ nicht. Auch, weil ich gerade einmal für anderthalb Tage gepackt hatte.

Aber wenn Toni nach Kärnten fahren würde – käme ich leichter nach Lienz als von Nordtirol. Außerdem könnte ich ihm beim Dachabschaufeln helfen. Sicherheitshalber besorge er sich noch Schneeketten und dann ging es los. Im Radio verlautbarte man, dass der Felbertauern weiterhin nur mit Ketten befahrbar sei. Die Drautalbundesstraße – auch! Der Gailbergsattel war überhaupt gesperrt!
Letzteres war schwerlich vorstellbar. Der Gailberg hatte eine Höhe von 981 Meter! Für einen Alpinisten wie mich ist das nicht einmal eine Berg! Wie kann man den sperren?!
Am Bahnhof Villach war die Lage kaum unter Kontrolle zu halten. Das Bundesheer musste ausrücken um zu helfen. Teilweise fiel der Zugverkehr gänzlich aus.
Bei uns in Kufstein wehte der Föhn und die Sonne ließ eine Frühlingssstimmung aufkommen.

Wir entschieden uns für die Tauernautobahn. Bis Villach sollten wir ohne Probleme kommen, ab dann mussten wir eben auf der Bundesstraße fahren.
Immer mehr Details berichtete man im Radio. In meiner Heimat waren bereits drei Täler von der Außenwelt abgeschnitten. Das Villgratental, das Defereggental und das Lesachtal, aus dem ein Teil meiner Familie stammt. In letzterem gingen Lawinen bis in die Talregionen ab und weckten Erinnerungen an Galtür, in dem 1999 Lawinen Stadteile zerstörten. Im Lesachtal kamen zwei Leute um, eine Autofahrerin wurde mitsamt Auto verschüttet, konnte aber lebend geborgen werden.

Felder in Bayern

Wir waren inzwischen auf bayrischer Seite, wo machen Felder ausaperten und die Sonne schien. Die Nachrichten wirkten ob diesen bizarren Gegensätzen unglaubwürdig. Mein Onkel sprach davon, dass sich hier auf der Alpennordseite das Wetter öfters drastisch unterschied. Als letztes Jahr Nordösterreich von Fluten gepeinigt wurde, hatten sie im Süden strahlenden Sonnenschein.

Ich will auch einen Defender… Aber einen angenehmeren!

Wir erreichten die Grenze zu Salzburg und bald den Pass Lueg. Das Wetter hielt sich trocken, der Altschnee nahm zu. Ganz im Süden konnten wir langsam aber sicher Schneefall sehen. Mir wurde mulmig zumute. Ein Defender überholte uns. Wenn die Teile billiger wären, weniger Sprit fressen täten und dem Fahrer mehr Platz bieten würden, wäre ich auch in so einem unterwegs. Jedoch hat mein Auto andere Vorteile… Die aufgrund nicht funktionstüchtiger Scheibenwischer heute nicht zum Tragen kommen…

Auf einmal winkte ein Polizist am rechten Fahrstreifen herum und ließ ein Dreieck mit „Stau“ aufblinken. Hier??? Keine einzige Schneeflocke hatte die Fahrbahn gesäumt und es gab einen Stau???

Für die LKWs gab es kein Weiterkommen…

Teilweise war das Wetter gar nicht einmal so schlecht

Doch – wir konnten ohne Weiteres passieren. Der Stau betraf nur LKWs, die am linken Fahrstreifen anhalten mussten – kurz vor dem Tauerntunnel. Neben der Fahrbahn tauchten immer mehr Schilder auf.

Kettenanlegeplatz

„Ketten Anlegeplatz“, Reinigungsplätze für Lastwägen und Überholverbote für Fahrzeuge über 3,5 Tonnen. Die Gegenfahrbahn war kaum frequentiert – mich verwunderten die nicht geringe Zahl der Nutzfahrzeuge etwas, die mit beachtlichen Schneemengen an Motorhaube und Anhänger ins gelobte Land ratterten.

LKW-Reinigung

Kurz vorm Tauerntunnel gab es eine Blasenleerpause und ich unterhielt mich noch kurz mit einer Frau, die rätselnd vor ihrer offenen Motorhaube stand. „Schrecklich“, „Unfassbar“ und „so viel Schnee“ fassen grob ihre Impressionen zusammen.

In den Radstätter Tauern hingen schon drohende Wolken und ergossen den Schnee in die felsigen Gipfel. Regen setzte ein und die Temperatur fiel. Der Tunnel machte mich noch etwas nervöser. Was würde uns auf der anderen Seite erwarten?

Es wurde bedrohlicher…

Und schließlich das Ende der Nordalpenseite

DAS war das Schneegestöber???

Als wir nach knapp 6km den Ausgang sahen, fiel gedämpftes Licht ein. Frischer Schnee säumte die Fahrbahnränder und die angezuckerten Bäume gaben dem Ganzen eine weihnachtliche Atmosphäre. DIE PAAR ZENTIMETER haben so ein Chaos verursacht? Toni erkannte gleich an meinem zweifelnden Blick, dass ich die Tauernstrecke erst selten gefahren bin. „Da kommt noch ein Tunnel“ meinte er.
Im Radio sprach man immer mehr von Zugausfällen Richtung Osttirol. Nicht nur das. In manchen Gegenden mussten Stadtteile aufgrund akuter Lawinengefahr evakuiert werden. Man hatte in großen Teilen Osttirols und Kärntens Lawinenwarnstufe 5 ausgerufen. Die Höchste.

Vor dem Katschbergtunnel fiel ein wenig mehr Schnee, aber die Menge hier war nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit.

Hinter dem „Katschi“ offenbarte sich eine andere Welt.

Was würde wohl hier kommen?

Ein halber Meter Schnee stapelte sich  bereits neben der Autobahn am Pannenstreifen. Kleinere Autobahnabfahrten waren kaum passierbar, da die Räumungsfahrzeuge den ganzen Schnee mit wenig Rücksicht auf die an die Seite schoben.

DAS nenne ich Winter!

Der Schneefall war gewaltig. Es tauchten erste Kettenpflicht-Schilder auf, jedoch kamen wir zügig voran. Wir passierten die Kärntner Grenze. Fast zynisch lachte uns das Schild an:“Kärnten – Lust am Leben“.

Haiders Vendetta?

Mit 4×4 überholt sich’s eben leichter…

Trotz Schneefahrbahn wurden wir einige Male überholt. Was den Fahrern nicht viel brachte… Wenige Kilometer später stand alles.
Warum… Konnte man nicht sagen. Aus Neugier und weil mich diese Sitzerei langsam nervte stieg ich aus und marschierte ein paar Meter. Die leichte Heeresjacke war sehr bald voller Schnee und mir war kalt. Zurück zum Auto, Mantel an, Hut auf und ich startete einen weiteren Versuch.

Stets gerüstet für den Winter

Erst jetzt wurde mir das Ausmaß des Staus bewusst. Einige Fahrer standen wohl schon länger. Viele waren aus Slowenien, Kroatien oder Deutschland. Manche nutzten die Wartezeit, um ihr Auto mit den Händen vom immer mehr werdenden Schnee zu säubern, einige setzten verbrauchten Flüssigtreibschtoff ab und ein paar gingen wie ich einfach nur herum.

Ein Slowene hatte ein sehr interessantes „Kettenmodell“ auf seinem Reifen montiert. Eine Art Netz das über den gesamten Reifen gespannt war.
Aus einem Züricher Auto fragte mich jemand, ob ich denn wisse, was passiert sei – ich verneinte und versprach, es herauszufinden. In einiger Entfernung bewegte sich etwas. Durch den Schneefall konnte ich quer stehendes Lastauto entdecken und, war mir aber sicher, dass das Problem recht bald behoben seit würde und lief wieder nach hinten.

Meine Stiefel leisteten hervorragende Arbeit und hatten einen ordentlich Grip. Reisenden, die mich fragend beobachteten rief ich zu, dass es sogleich weiterginge, worauf sie wieder einstigen – auch dem Schweizer von vorhin konnte ich ein entsprechendes Handzeichen geben. Glücklicherweise erreichte ich Tonis Wagen, bevor die Kolonne sich komplett in Bewegung setzte. Nur wenigen Sekunden später überholten wir den „Übeltäter“.
Ein Autotransporter mit einer Achse – und ohne Schneeketten(!) hatte den Halt verloren und blockierte den Verkehr. Wäre ein Auto neben ihm gewesen, hätte er es womöglich mitgenommen. Ein gefährlicher Leichtsinn.

Kein Weiterkommen

Im Radio mehrten sich die Hinweise auf eine Sperre der Verbindung Spittal-Villach. Mein Onkel hoffte bis zuletzt, dass die Sache noch gelöst werde, bevor wir ankamen. Vergeblich.
Die Auffahrt hatte man vorsorglich gänzlich abgesperrt. Die Abfahrt Spittal füllte sich mehr und mehr mit frustrierten Lenkern, somit hatten wir nur noch Bundesstraße vor uns.
Trotz eher „moderater“ Räumung kamen wir komplikationslos voran und hofften bald wieder auf die Tauernautobahn auffahren zu können, um uns so zur Südautobahn durchzuschlagen und im Gailtal zu landen.

Kapitel 2: Probleme

Dieser Streckenabschnitt zeigte uns erstmals, wie dramatisch die Lage war. Bahnarbeiter versuchten die Gleise frei zu bekommen. Eingeborene befreiten ihre Dächer von der Schneelast und vom Straßendienst stiefmütterlich behandelte Ausfahrten boten höchstens einen Platz zum Steckenbleiben.


Strategische Nutzlastvernichtung

Auf Facebook witzelte eine Freundin von mir, dass ihr der Allrad nichts bringe, wenn schon über ein Meter Schnee auf und neben dem Auto läge. Das Gestöber wurde mehr anstatt weniger. Teilweise hatte man nur eine Sicht von ein paar hundert Meter.

Allrad für alle?

Endlich hatten wir es bis zum Kreisverkehr mit der Auffahrt geschafft. Seltsamerweise ging hier überhaupt nichts weiter. Zuerst haderte ich mit dem Aussteigen, doch wir sahen, dass der Kreisverkehr leer war! Weswegen ich wieder aus dem Auto hüpfte und vorpreschte. Was da passierte war unglaublich. Ein LKW schaffte den Anstieg nicht und schob rückwärts nach hinten durch. Ein Einweiser half dabei wieder stürmte ich zurück zum Auto. Nur wenige Sekunden später waren wir bereits in Fahrt und versuchten uns an der Steigung.

Hallo Auto…

Geisterfahrer unterwegs…

Was jetzt kam war noch viel unglaublicher. Gegenverkehr – auf der Auffahrt!
Im ersten Moment fürchtete ich, dass wir ob der Schneemassen aus Versehen die Abfahrt genommen hatten, doch der Fehler lag nicht auf unserer Seite.
Die Auffahrt war blockiert. Was sich oben auf der Autobahn abspielte kann ich mir nur denken. Laut dem Geisterfahrer gab über uns kein Vor und Zurück. Lastwägen ohne Ketten blockierten den gesamten Abschnitt. Mittlerweile bildete sich eine Autoschlange. Toni, der sich mit dem Herrn vorne unterhielt erklärte den Fahrern hinter uns, dass auch wir jetzt umdrehen müssen und die Horde der PKWs schlich rückwärts durch die Einbahn und den Kreisverkehr. Was blieb war wieder einmal die Bundesstraße.

Reiher

Vermutlich war das die beste Entscheidung gewesen. Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn auf der Anhöhe jemand den Halt verloren hätte…

Radio Kärnten war wie die meisten angefressenen Autofahrer auf die Pirsch gegangen, um die „Täter“ dieses Schlamassels ausfindig zu machen. Man sprach mit Brummifahrern, die zwar einen starken Akzent hatten aber vermutlich besser Deutsch konnten als unsereins Serbokroatisch, Bulgarisch oder Türkisch. In „zwei Minuten“ hätte er die Schneeketten montiert meinte ein Logistiker. Warum er es erst tun wollte, nachdem er komplett festgefahren war konnte er nicht beantworten.

Kurz vor Villach wollte sich ein anderer Lastwagenfahrer in „Sicherheit“ in eine Raststation begeben aber scheiterte an der Einfahrt. Als Resultat hielt der Sattelschlepper mit seinen zwei Anhängern den ganzen Verkehr auf. Die Exekutive hatte alle Hände voll damit, den Verkehr halbwegs um ihn herumzulotsen.

Der Weg ging über die Tirolerstraße und Judendorf beim Atrio vorbei. Die Lage wurde immer dramatischer. In den Feldern lag über ein Meter Schnee. Verständlich, dass die Bahn den Betrieb des Gailtal-Express’ stoppte. Kurz hinter dem Stadtteil Auen hingen Bäume aus dem Wald, die den Schneemassen nicht widerstehen konnten.

Kapitel 3: Viel Schnee, wenige Probleme

Straße von Villach ins Gailtal

Den Kindern gefällts…

Richtung Nötsch hatten wir Schneefahrbahn mit kaum Räumung. Einige Verrückte überholten uns. Neben der Straße legten Bulgaren ihrem Transporter rostige Ketten an.
In wenigen Kilometern sollten wir St. Stefan erreichen. Fast sechs Stunden waren wir schon auf dem Weg. Mein Magen knurrte etwas und wir hielten bei einem Supermarkt, um Abendessen zu kaufen. Nur eine Kleinigkeit. Rührei und dazu Brot.

Bushäuschen…

Tante Lisi hatte uns ein paar Brötchen belegt, die ich jetzt noch aß, um etwas Kraft zu erhalten. Kaum war ich fertig, hatten wir unseren Zielort erreicht.

San Stephano

Onkel Toni und die Einfahrt

Die Straßen waren mehr schlecht als recht geräumt. Ein Nachbar hatte nur seine Einfahrt schneefrei gehalten, nicht die Einfahrt zu dieser, weswegen wir hier mit der Schaufel erst frei machen mussten. Den letzten Teil der Strecke legte mein Onkel eher rutschend zurück und kam sicher vor seinem Haus an.

Schnell tauschte ich Mantel, Winterhandschuhe und Hut gegen Jacke, Arbeitshandschuhe und Tschako. Toni machte sich daran, den ersten Teil des Daches zu säubern, während ich die Leiter stabil hielt. Kaum war er oben und legte mir einen Platz frei, befreite ich den Weg noch vom Schnee und platzierte die Leiter an einer sichereren Stelle.

Gemeinsam säuberten wir nach und nach die Vorderseite des Daches. Teilweise konnte ich mich etwas spielen, indem ich den Schneehaufen untertunnelte und so gezielt zum Einsturz brachte. Doch die Schneeschichten verhinderten ein gezieltes Abrutschen meistens. Manchmal ließen sich die Blöcke leichter entfernen, manchmal erfasste mich noch die „Lawine“, als ein Sektor stürzte, in jedem Fall durchdrang das eiskalte Wasser meine Kleidung sofort. Nach etwa einer Stunde hatten wir die eine Dachseite praktisch geräumt und ich holte meine Stirnlampe, da die Dunkelheit einbrach.

Vorher…

Die zweite Dachseite hatte fast zwei Meter Schnee, die Wetterseite tat ihr Übriges. Einige Achtungserfolge gelangen mir mit meiner Lawinentechnik – beim nächsten Mal würde ich aber eine rutschige Folie mitnehmen, um den Prozess effektiver zu gestalten.
Nach einer weiteren Stunde hatten wir das Dach ausreichend gesichtert. Nur noch Restschnee lag darauf. Meine Finger waren leicht unterkühlt und ein etwas zu beherzter Schaufler beförderte neben dem Schnee auch noch die Schaufel über das Dach hinaus. Toni fand das durchaus erheiternd und meinte, dass wir genug getan hätten, er würde noch schnell ein paar Reste beseitigen – und ich könne, wenn ich wolle springen.
Nur sollte ich mich hüten, richtig aufzukommen, da meine Landefläche zwischen Garten- und Verandazaun lag. Die Schaufel lag strategisch gut und ich versuchte so breit wie möglich zu landen. Die Aerodynamik drängte mich wieder in die Vertikale und so endete ich bis zu den Schultern im Schnee, mit den Füßen den Gartenzaun fühlend.

Die Nachbarn hatten es auch nicht besser

Das ganze war noch recht lustig, doch als ich heraus wollte war das gar nicht keine triviale Angelegenheit.
Ein Freund meinte einst zu mir, dass eine 10 Zentimeter Schneedecke komplett ausreiche, um ein Lawinenopfer zu töten. Wer noch nie mit Händen und Füßen im Schnee steckte fände das sicher unglaubwürdig. Ich für meinen Teil war schon öfters in einem solchen Tiefschnee und versuchte angestrengt herauszukommen.
Doch unter meinen Füßen bildete sich nur ein Hohlraum, meine Hände konnten sich nirgends aufstützen und zum „schwimmen“ war der Widerstand zu groß.

Toni rief herunter, dass ich die Schaufel verwenden solle. Großartige Idee. Freischaufeln… brachte überhaupt nichts. Dafür war die Schaufel zu groß und der Schnee zu tief.
Doch war die Schaufel mit Stiel breit genug, um mich darauf zu stützen – und stemmte mich mühevoll hoch.
Die Prozedur wiederholte ich zwei Mal und zog mich über den Verandazaun zur Eingangstüre… die verschlossen war. An der Hausseite verdrängte ich mit meinem Körper die Massen, umkreiste das Haus und erreichte den Eingang.
Alles war gänzlich durchnässt. Der wärmende Kachelofen würde hoffentlich alles bis morgen trocknen und ich zog etwas Bequemeres an. Bald kam Toni ebenfalls klatschnass herunter und wir tranken den Tee, den uns Lisi mitgegeben hatte.

Schneeschauflermenü

Zum Essen gab es Omelette.
Dabei erzählte mir mein Onkel von seinen Reisen in den Ostblock und in den Irak, die er in den 70er und 80er Jahren unternommen hatte. Damals, so erinnerte er sich war der Irak ein viel sichereres Land als die Türkei. In der Türkei mussten sie in einem Camp übernachten, im Irak war es kein Problem, auf offenem Felde zu biwakieren.

Er hatte irakische Städte bereist, als es zum Irakisch-Iranischen Krieg kam und die Straßen mit Sandsäcken gesichert wurden. Auch erzählte er mir, dass mein Onkel Hubert auch ein paar Mal mitgekommen ist…

Wir hatten gute Arbeit geleistet

Der Schnee ging langsam in Regen über und wir waren froh, dass das Dach sicher war. Ich schlief im Zimmer mit dem Ofen und wachte am nächsten Morgen auf, als es draußen nur noch regnete. Die Nachrichten waren immer noch dieselben. Für mich war interessant, dass es zwischen Spittal und Villach einen Pendelverkehr gab. Von Lienz war keine Rede, nur dass auf den Straßen weiterhin Kettenpflicht herrschte.

Mir fiel etwas ein. Es auf 7 Straßen nach Osttirol.

  1. Drautal (Gailbergsattel (gesperrt) oder über die Bundesstraße durchs Drautal)
  2. Pustertal
  3. Felbertauernstraße
  4. Iselsberg
  5. Lesachtal
  6. Staller Sattel
  7. Klammljoch

Letzteres ist für KFZs generell gesperrt, der Vorletzte nur übern Winter, das Lesachtal während der schweren Schneefälle und die vier ersteren waren derzeit ausschließlich mit Ketten befahrbar. Praktisch war der Bezirk Osttirol, der größer ist als das Bundesland Vorarlberg vom Rest Österreichs abgeschnitten…

Kartenquelle:
https://www.tirol.gv.at/lienz/organisation/ref4/

Auch mein Onkel prüfte online das Wetter. Die Seite sprach von „Hoffnung“ auf Schnee. Sind die Meteorologen inzwischen Zyniker geworden?

Auf der Seite der Österreichischen Bundesbahnen zeigte man mir an, dass ein Zug nach Lienz verkehre und dieser „pünktlich“ sei. Kein Grund zur Sorge also?
Ich rief bei der Hotline der ÖBB an, die im Moment etwas überlastet war. Nach einigen Minuten Wartezeit begrüßte mich ein Telefonist freundlich.

Die Warnung ist Programm…

Optimistisch fragte ich, ob ich denn gut nach Lienz komme. Nach Lienz kommt man im Moment überhaupt nicht, versicherte er mir. Wie? Wir unterhielten uns wie die Lage derzeit war. Nach Spittal hatte man einen Pendelverkehr eingerichtet, der durchkommt, aber niemand wisse, wann dieser wo sein würde. Verkehren würde er aber. Auf der Webseite hatte man nur den regulären Fahrplan.
Sollte ich noch einen Tag bleiben müssen…?

Der Kollege am Telefon sah die Verbindungen durch und war überrascht. Gegen Mittag hatte man versucht einen Zug nach Osttirol durchzuschleußen – was gelungen war! Er sähe das auch soeben das erste Mal.
Man wolle derzeit keine sinnlosen Risiken eingehen. Vor Jahren sei ein Zug in Vorarlberg von einer Lawine erfasst worden. Auf seinem Bildschirm flimmerte eine weitere Aktualisierung auf. Es gab einen weiteren Versuch, einen Zug nach Lienz zu bringen. Um 14:56.
Ich lief zu Toni hinaus. Gerade war es 13:40 – er meinte, das müsste locker zu schaffen sein.

Zeitig verließen wir St. Stefan über die inzwischen gut geräumte Straße. Der andauernde Regen hatte sein Übriges getan und wir kamen ausgezeichnet weiter. Auf einigen Dächern schöpften die Kärntner den immer schwerer werdenden Schnee weg.

Kapitel 4: Alleine geht’s heim

In Villach waren die Schneemassen vom Vortag inzwischen zusammengesunken und bildeten eine kompakte Masse. Toni entließ mich am Bahnhof – es sollte nur ein kurzer Abschied sein… In einer Woche würden wir einander wieder sehen.

Bahnhof Villach

Villach

Hübsche Mädchen arbeiten bei der Bahn…

Der Bahnhof war voller als gewöhnlich. Einige Züge fielen aus, doch mein Zug nach Lienz war aufgelistet! Halblinks hatten die Bahnen einen Promotion-Stand aufgestellt, der Wurst- und Käsesemmeln und heißen Tee verteilte. Dort erzählte man mir, dass Tags zuvor das Bundesheer hier eingerückt sei, da es hinten und vorne an Räumkapazitäten gefehlt hatte. Verständlich bei diesen Schneemassen! Die Bahnarbeiter wurden zu anderen Streckenteilen geschickt, um dort den Betrieb aufrecht zu erhalten. Villach geriet dadurch in eine gewisse Notlage.

Niemals in Notlage… Ich

Diese Ehrlichkeit überraschte mich positiv- man überreichte mir Essen und Trinken und ich verschwand zum Bahnsteig 5DF, an dem gerade mein Zug einfuhr.

Elend im Zug

Eigentlich erwartete ich ein größeres Elend im Zug, doch nur verhältnismäßig wenige Passagiere fanden sich ein. In Spittal mussten wir den Zug wechseln und hatten eine halbe Stunde Wartezeit bis der andere Zug ankam. Dann ging es auf der einspurigen Fahrbahn in den verlorenen Bezirk Osttirol.

Spittal

Die Spur war wirklich gerade noch ausreichend. Mehr als ein Zug würde die Route nicht schaffen.

Isel

Heimweg

In den Abendstunden konnte ich mir das erste Mal ein Bild der Stadt machen. Alle Gebäude hatten Warnschilder mit „Vorsicht Dachlawine“ und einer inflationären Anzahl an Ausrufezeichen. Vor der Bank Austria-Filiale stand die Feuerwehr mit Blaulicht. Und ich..? Ich verzichtete auf die Gehsteige und schritt inmitten der Straßen nachhause…

Ein paar Schneeflocken und wir sind wieder in der Steinzeit


Einsortiert unter:Mario Schwaiger, Oesterreich, Reiseinformation