Andernorts, in Pakistan oder Burundi beispielsweise, lebt man mit umgerechnet 364 Euro monatlich, in der überdurchschnittlichen, in der gehobenen Verdienstklasse. Daher ist es ein Frevel an der Realität dieser Welt, über Hartz IV zu klagen. Weil ein Hartz IV-Leistungsberechtigter ein potenzieller Spitzenverdiener in Burundi sein könnte, soll er zufrieden sein müssen. Soviel Gespür sollte man von den so genannten Armen schon verlangen!
Das ist natürlich hanebüchener, aber nicht selten zu hörender Unsinn. Nicht nur, weil der Leistungsanspruch wegfallen würde, sollte sich ein Hartz IV-Empfänger dazu durchringen, seinen Wohnsitz von Deutschland weg, folglich dorthin zu verlagern, wo er reich und vermögend sein könnte. Sondern auch, weil die Relativierung der Armut durch noch größere Armut eines der größten Verbrechen ist, die man den Heerscharen von Armen antun kann. Wer so argumentiert rechtfertigt Armut und verfestigt sie.
Orientierte sich die hiesige Armut an der Armut in Entwicklungsländern, so müsste sie nur Danke! rufen und in chronischer Ergebenheitshaltung verharren. Entwicklung wäre somit nicht denkbar, Rückbau wäre Maxime, denn selbst bei Kürzungen wäre der Empfänger von Sozialleistungen immer noch Topverdiener in Burundi. Die Ausrichtung an einem Entwicklungsland entwickelt in Industrienationen nur Zustände, die hinter einem vermeintlich allgemeinen Wohlstand verborgen bleiben.
Diese dreiste Masche, Armut gegen Armut anzusetzen, den einen Teil der Armen heranzuziehen, um den anderen Teil der Armen zu diskreditieren, wird von Menschen betrieben, die mit Armut nichts zu tun haben. Sie deuteln Richtung Afrika und Asien und meinen, das sollte als Beispiel genügen, damit die hier ansässige Armut schweigt. Drehte man den Spieß um, würde man nach Afrika zeigen und die dortige fehlende Rechtssicherheit, den mangelnden sozialen Frieden und die ab und an gewalttätige Pogromstimmung gegen Reiche und Reichtum hochhalten, würde man das brüsk als polemischen Populismus abtun. Das sei schließlich nicht dasselbe!
Klar ist, dass Armut hier und Armut dort sich unterscheiden. Die zum Himmel schreiende Armut in Entwicklungsländern, die an die Existenz geht, ist aber nicht die Richtschnur für eine psychologisch knechtende, für eine sozial ausgrenzende, für eine geistig stumpf machende Armut, wie sie in den Industrieländern herrscht. Die existenziell gefährdende Armut dort ist kein Vergleich zur klassistischen Armut hier - die abstumpfende, entsozialisierte und psychologische Armut hier ist kein Maßstab für die Hungerarmut dort.
Beides sind Missstände, beides gehört beseitigt, beides sind Auswirkungen derselben Maxime, desselben Systems, derselben Geisteshaltung. Beide Armutserscheinungen sind verschwistert und durch das harte Band des Kapitalismus von einem Blut. Die Relativierung der Armut durch die Armut andernorts ist nihilistisch, fortschrittsbehindernd, opportun und armutsverfestigend. Ob beabsichtigt oder nicht, ob bewusst oder nicht: das entscheidet der Einzelfall. Aber dass solche "realistischen Einschätzungen" nur den Herrschaftsansichten und -strukturen dienen, stimmt in jedem Falle.
Wobei die realistische Einschätzung, absichtlich zwischen Anführungszeichen geklemmt, nicht realistisch sind, sondern Abbild einer maladen Dialektik, die von sich selbst annimmt, noch reibungslos zu funktionieren. Eine Familie in Burundi kann mit dem Regelsatz in Burundi fürstlich leben - aber bekommt sie den Regelsatz, so hat sie ihren Wohnsitz in Deutschland. Anders gesagt: In Deutschland ist ihre Armut trotz fürstlicher Apanage weiterhin gewährleistet.
Wer solcherlei Vergleiche für sinnvoll oder gar realistisch abtut, dem geht jegliche Rationalität ab. Der könnte auch den Suff verursacht durch Wodka und verursacht durch Amaretto vergleichen und feststellen, dass letzterer erträglicher und vielleicht auch akzeptabler und gesünder sei, weil er geschmacklich ausgereifter ist. Man kann Armut und Armut nur über die Gemeinsamkeit der Armut vergleichen - vergleicht man sie von den Unterschieden herkommend, so vergleicht man nicht, man relativiert. Unterschiedliche Erscheinungsformen gibt es, aber sie sind strukturell bedingte Aspekte, die nicht spalterisch zu bewerten sind, sondern als dasselbe Übel aus derselben Quelle.
Die Reichen in Burundi, die bei uns arm genannt werden, weil sie einen Leistungsanspruch nach Sozialgesetzbuch haben, sind die ganz große Mär und die noch viel größere Infamie einer Konservatismus, der möchte, dass alles so bleibt, wie es ist, damit auch morgen noch Arme kraftvoll anpacken müssen - in Teilzeit und zu Hungerstundensätze, versteht sich.