Die Realität einer Satire

Man stelle sich mal folgendes Szenario vor:

Eine aufgrund lächerlichen Journalismus' renommierte Tageszeitung tritt auf einen bundesweit eigentlich recht unbekannten sozialdemokratischen Politiker zu, bittet diesen, seine kruden und planlosen Thesen zu Ausländern und Erwerbslosen lauter zu artikulieren als bisher, nämlich bundesweit auszuposaunen, anstatt nur in seiner Stadt - und, falls es zeitlich mal passen sollte, auch zu publizieren. Dafür widmete ihm das Blatt fortan viel Aufmerksamkeit, versichert man dem Politiker, der daraufhin, Narziss der er ist, natürlich der Verlockung erliegt. Der Chefredakteur der Zeitung, Duzkumpel und Trauzeuge eines christlich-konservativen Ex-Kanzlers, wählte hierbei absichtlich einen Sozialdemokraten aus, um diesen eines Tages auf dessen eigene Partei anzusetzen. Denn obwohl die Sozialdemokratie mittlerweile gut konservativ geworden ist, ist sie vielen ein Dorn im Auge - und sei es nur aus traditioneller Verachtung oder aus Gründen ideologischen Lagerdenkens, das anno dazumal überlebte. Wankelmütig sei sie, die Sozialdemokratie, weil sie stets ihre historischen Wurzeln beschwört, die im politischen Tagesgeschäft nichts mehr zu suchen hätten.
Kurzum, der Politiker erfüllt seinen Auftrag, er hetzt wöchentlich gegen besagte Gruppen und erntet, fein kalkuliert vom Chefredakteur, der seine Klientel blendend kennt, tosenden Applaus von Stammtischen und aus Akademikerzirkeln. Mittlerweile hat sich der Provokateur bundesweit einen Namen gemacht. Die Zeitung berichtete ja beinahe täglich über ihn und modellierte jede noch so kleine, noch so dumme Äußerung zur Schlagzeile. Nachdem er seine Ansichten zusammentrug und sie, jetzt hatte er Zeit gefunden, publizierte, gärte es in der Sozialdemokratie. Der Ruf nach Ausschluss aus der ehrenwerten Partei wurde laut, setzte ein Parteiausschlussverfahren in Gang und... verwarf es wieder. Weiterhin stolzer Besitzer eines Parteibüchleins! Auch das war dem Kalkül des Chefredakteurs geschuldet, der bereits ahnte, dass man einen Ausschluss mit Blick auf die öffentliche Meinungnie ernstlich erwägen würde.
Und diesen erwarteten Umstand ergreift natürlich wiederum der arglistige Chefredakteur. Malen wir es uns aus, wie er zunächst die christlich-konservative Kanzlerin anruft, dann deren politischen Vater, mit dem er ja, wie wir lasen, eine freundschaftliche Beziehung pflegt. Er könnte beiden mitgeteilt haben, dass er ein kleines Präsent für sie hat, ein weiteres Mosaiksteinchen zur endgültigen Zerschlagung der Sozialdemokratie - diesmal kommt die Dampfwalze sogar aus deren eigenen Partei. Und dann gibt er die Schlagzeilen in den Äther: "Der Provokateur spaltet die Sozialdemokratie!" Parteiflügel werden ausgespielt und aufeinander gehetzt - und die Partei, mittlerweile sowieso keine nennenswerte Größe mehr, wird abermals um Kredit gebracht. Man stelle sich mit etwas Phantasie - oder auch ohne - vor, wie die Kanzlerin dankbar säuselt, denn sie hofft innig, dass mit dem Erhalt des Provokateurs noch mehr chauvinistisches und sozialdarwinistisches Gedankengut in die Sozialdemokratie gelangen könnte - was einige Pläne, die man in der Schublade hat, doch wirklich machbarer machen würde. Denn wenn sich auch beim politischen Gegner mehr Befürworter fänden, kann man allerlei Nationaltümeldes und Unterschichtenfeindliches verabschieden. Braver Bub!, so könnte der senile Altkanzler kurz und knapp und jovial den Chefredakteur loben. Ob der Plan indes erfolgreich sein wird oder nicht, das steht außer Frage, das wird erst die Zukunft erweisen.
Gewinner aber ist der Provokateur, der keiner war, der lediglich einen agent provocateur gab. Noch ist er der Gewinner; vielleicht schart er ja einige rechte Sozialdemokraten um sich und gründet mit denen eine neue sozialdemokratische Partei, die sich freimütig und ungeniert zum Rassismus und Darwinismus bekennt. Vielleicht auch nicht. Dann läßt ihn der Chefredakteur womöglich fallen, denn dann ist sein Auftrag vorzeitig beendet und er nutzlos geworden. Nützliche Idioten haben nur eine kurze Halbwertszeit...

Was sich liest wie eine politische Überspitzung des Dürrenmatt aus den Fünfzigerjahren oder wie die Übertreibung eines Böll aus den Siebzigern, ist in den Zweitausendzehnern keine Glosse, kein satirischer Roman mehr. Die Tragik der Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts ist, dass der Literat keine Realitäten mehr aufplustert, um sie sichtbar zu machen - er setzt die Realität fort und gibt damit einen Ausblick auf die Zukunft. Die Realität, die wir erleben, sie ist wie ein Roman Bölls oder Dürrenmatts: überdreht, drastisch zugespitzt, eigentlich zu haarsträubend, um wahr zu sein. Katharina Blum war Fiktion, ist sie ja noch immer - die alte Dame, die zu Besuch war und jedermanns Niedertracht offenbarte, sie war auch nur eine dramatisierte Erfindung - der Protagonist des Augenblicks ist weder Frau oder Dame, noch wehrt er sich gegen eine Journaille ohne Menschlichkeit: er ist Teil dieses unmenschlichen Apparates. Aber wie man ihn gezielt benutzt, wie man seine unintellektuelle Erscheinung ins Rampenlicht zerrt und dieses kleinen, piefigen Mann zu etwas Messianischem aufbaut, das ist nicht mehr real, das ist bestenfalls die "Realität der Geisteswelt" eines Schriftstellers von Format - das kann doch nicht die reale Realität sein! Der Chefredakteur ist entweder größenwahnsinnig oder aber ein genialer, etwas verhinderter Literat, der seine satirische Geschichte nicht auf Buchseiten packt, sondern in Aufmacher.


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