Die Quellen des Terrorismus

Von Hartstein

„Des Einen Terroristen sind des Anderen Freiheitskämpfer“. Ronald Reagan

Was ist Terrorismus?
Aus den USA stammt auch einer der definitorischen Fixpunkte der Begrifflichkeiten. Das US-Außenministerium definiert „Terrorismus“ u.a. als „vorsätzliche politische Gewaltakte gegen Nicht-Kämpfer („noncombatant“) durch nicht-staatliche Gruppen oder Geheimagenten“. Diese Definition enthält zwar Mängel, verbindet aber drei Schlüsselaspekte: dass Terrorismus nämlich sowohl a) gewaltsam als auch b) politisch ist, und c) gegen Nicht-Kombattanten ausgeübt wird.

Das Problem dieser Definition besteht allerdings in der Einschränkung der Akteure auf „nicht-staatliche Gruppen oder Geheimagenten“. Damit fielen Akte politischer Gewalt gegen Non-Kombattanten durch militärische Einheiten eines Staates nicht unter den Terrorismusbegriff: Erschießt etwa ein Geheimdienst („Geheimagenten“) politische Opponenten, dann wäre dies terroristisch, tun dies Mitglieder einer regulären Armee, dann nicht. Diese definitorische Einengung zielt darauf, vor allem das eigene Militär präventiv vom Terrorismusvorwurf auszunehmen – und ist daher für die politische Praxis nützlich. Die „präventiven Liquidierungen“ palästinensischer Politiker oder Aktivisten durch die israelische Armee oder vergleichbare Akte der irakischen Republikanischen Garden wären danach keine Terrorakte, die gleichen Verbrechen durch nicht-staatliche oder geheimdienstliche Täter doch. Das ist unsinnig. In diesem Text wird der Terrorismusbegriff deshalb im Sinn der Definition des US-Außenministeriums gehandhabt – mit der Ausnahme, dass er jede potentielle Tätergruppe einbezieht.

Ursachen von Terrorismus
Die Ursachen des Terrorismus sind vielfältig. Terrorismus an sich ist keine attraktive politische Option, die sich immer anböte oder von breiteren Kreisen leichtfertig gewählt würde. Dazu sind die Nachteile zu groß: er ist oft mit hohem persönlichen Risiko verbunden, wird in der Regel von den meisten Menschen (auch den angeblichen „Nutznießern“) abgelehnt, erfordert (ab einem bestimmten Niveau der Planung und Organisation) signifikante Geldmittel und Infrastruktur, und der Ausstieg aus einer terroristischen Karriere ist oft schwierig oder unmöglich. Dies alles gilt für den nicht-staatlichen Terrorismus in noch stärkerem Maße als für den staatlichen.
Eine notwendige – aber nicht hinreichende – Grundvoraussetzung des Terrorismus besteht meist in einer allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Dauerkrise. Ohne einschneidende Krisenerfahrung wird die Schwelle zum Terrorismus oft nicht oder nur punktuell überschritten, weil er als „zu radikal“ empfunden wird. Dabei bedeutet „Krise“ aber nicht unbedingt das Vorhandensein bestimmter objektivierbarer Faktoren (etwa wirtschaftlicher Art, also einen bestimmten Prozentsatz an Arbeitslosigkeit oder Inflation, oder ein bestimmtes Maß an Repression), sondern ist ein oft subjektiver Faktor: es geht also um die Wahrnehmung, das Erleben einer Krise, nicht die bloße Verschlechterung objektiver Daten.

Armut
Häufig wird Armut als eine zentrale Ursache politischer Gewalt allgemein und des Terrorismus insbesondere genannt. Ein solcher Zusammenhang erscheint einleuchtend, ist auch nicht prinzipiell falsch – aber funktioniert doch eher indirekt und über einige Zwischenschritte. Armut an sich ist schrecklich, aber nicht notwendigerweise ein direkter Auslöser oder eine Ursache von Gewalt. Wenn allerdings krasse Armutsunterschiede vorhanden sind, eine Gesellschaft z.B. tief in Arm und Reich gespalten ist, wenn dann diese Armutsdifferenz in erkennbare Bewegung gerät, sich also etwa vermindert oder verbreitert – dann kann die Gewaltwahrscheinlichkeit tatsächlich steigen. Armut kann also einen Leidensdruck produzieren, der unter bestimmten Umständen in gewaltsame Reaktionen umschlagen kann, wie er auch in Apathie, Selbsthass, Kriminalität, Entpolitisierung, individuelle Überlebensstrategie und anderes münden kann, aber nicht muss. Armut ist also ein Rohstoff der Gewaltentwicklung, aber nicht mehr als das. Sie führt nicht automatisch zur Gewalt, und Gewalt kann auch ohne sie zustande kommen. Trotzdem: gerade Veränderungen in der Armutsstruktur (also beispielsweise die Pauperisierung der Mittelschichten, eine massive Vergrößerung oder Verkleinerung des Armutsgefälles, oder die bloße Gefahr bisher privilegierter Gesellschaftssektoren, abzusinken und gegenüber anderen ins Hintertreffen zu geraten) können wichtige Faktoren einer gesellschaftlichen Gewaltdynamik sein.

Der aktuelle islamisch geprägte Terrorismus speist sich weiterhin aus säkularen Quellen: aus den erwähnten sozialen Problemen und Konflikten, Unterdrückung, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit. Ohne diese Quellen würde der islamistische Terrorismus über kleine Grüppchen von Spinnern nicht hinausgelangen, er würde nicht bedeutsamer sein, als es die deutsche RAF in den siebziger Jahren war: geräuschvoll, großmäulig, aber politisch isoliert. Die Gefahr der Überreaktion wäre noch gefährlicher als der Terrorismus selbst. Der islamistische Terrorismus ist heute nicht bedeutsam, weil er islamistisch ist, sondern weil er über eine Basis in einigen Ländern verfügt, die nicht aus dem Koran, sondern den sozialen Realitäten entspringt. Auf dieser Basis allerdings kann jede Form von Religion zu einer zusätzlichen, mächtigen ideologischen Waffe werden, auch der Islam.

Rolle der Religion
Sein praktischer Nutzen besteht darin, dass er nicht-westlich ist (im Gegensatz etwa zum Nationalismus, der in gewissem Maße ein westliches Importprodukt war), dass er sich auf eine ausgesprochen hohe moralische Instanz beruft (Gott), die zusätzlich prinzipiell nicht widerlegt werden kann (Gott kann sich gegen seine politische Instrumentalisierung offensichtlich nicht wehren) und dass Religion eine besonders starke emotionale Komponente enthält, die manche säkulare Ideologien nicht – oder nicht mehr – besitzen.
Der Islam – bzw. bestimmte, unorthodoxe Interpretationen des Islam – können unter manchen Umständen also dazu beitragen, terroristische Täter ideologisch zu stärken, ihre politischen Motive durch spirituelle zu ergänzen und so ihre Motivation zu erhöhen. Der Islam kann ebenfalls – wie nationalistische oder andere Ideologien – die Funktion erfüllen, Gemeinsamkeit zu stiften und so politische Koalitionsbildung erleichtern: etwa an die Gemeinschaft aller Muslime appellieren, so wie früher, und zum Teil noch immer, die Gemeinsamkeiten etwa der Araber politisch genutzt wird. Umgekehrt kann er natürlich zur Ausgrenzung eingesetzt werden, etwa von Nicht-Muslimen. Er kann also insbesondere bei der Stärkung der Gruppenidentität, der Motivierung, und bei der Definition von In- und Outgroup eine wichtige Rolle spielen. Dabei fällt auf, dass der politische Islam als Begründungskontext für Terrorismus (was die seltene Ausnahme, nicht die Regel darstellt) zuerst im jeweiligen Land, nicht international herangezogen wird: Der jeweiligen Diktatur oder Machtelite wird ihr islamischer Charakter bestritten, oft mit sehr säkularen Argumenten wie Korruption oder außenpolitischen Vorwürfen, aber auch dem ausschweifenden Lebenswandel der Herrscher.

Zur Strategie gegen den Terrorismus
Eine zivile Strategie der Gewalt- und Terrorismusprävention ist schwierig und muss an verschiedenen komplexen Faktorensystemen ansetzen. Zuerst einmal wäre es allerdings sinnvoll, den Terrorismusbegriff klar zu fassen und der Versuchung zu widerstehen, ihn je nach Opportunität nur seinen Gegnern zuzuweisen, während ähnliche Praktiken bei befreundeten oder nützlichen Akteuren übersehen oder verharmlost werden. Die Anwendung gleicher Maßstäbe nach allen Seiten ist eine Schlüsselvoraussetzung für die Glaubwürdigkeit bei der Terrorismusbekämpfung und –prävention.
Eine Vorbeugung gegen Gewaltkonflikte und Terrorismus sollte die innergesellschaftlichen Quellen und Ursachen der Gewaltpotentiale und die wichtigen, symbolträchtigen Regionalkonflikte ins Zentrum rücken: Solange die Bevölkerungsmehrheiten über keine positive Lebensperspektiven verfügen und solange etwa der Palästinakonflikt nicht gelöst wird – solange wird die Gefahr bestehen, dass sich die Gewaltpotentiale reproduzieren. Deshalb ist es wichtig, die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Bedingungen friedlicher Gesellschaftsentwicklung insbesondere in den muslimischen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens deutlich zu verbessern, und darüber hinaus deren politische Systeme so zu reformieren, dass sie in weit größerem Maße als bisher Möglichkeiten zu friedlicher Partizipation und Veränderungen bieten. Dies dürfte in einer Zwischenperiode das Konfliktpotential noch erhöhen, es müsste deshalb gezielt durch externe Wirtschaftshilfe abgefedert werden. Eine Dämonisierung und Ideologisierung politischer Diskursformen der Region (Islam/Islamismus) sollte unterbleiben, um die ideologische Polarisierung nicht noch zuzuspitzen. Schließlich wären verstärkte und massive Anstrengung zur Lösung regionaler Gewaltkonflikte (Palästina, Kaschmir) nicht nur notwendig, um das direkte Konflikt- und Rekrutierungspotential dort auszutrocknen, sondern auch um insgesamt zu signalisieren, dass der Westen die Unterdrückung und das Leiden von Muslimen nicht geringer würdigt als die von Menschen anderer Kulturkreise…“
„Hinweise zu Ursachen, Rekrutierungsbedingungen und Wirksamkeit politischer Gewalt“ von Jochen Hippler

Quelle und gesamter Text: http://www.jochenhippler.de/html/quellen_des_terrorismus.html