Die Psychopathologie des “Neoliberalismus”


„…Die grundlegenden Orientierungen des “Neoliberalismus” – die weitgehende Beseitigung des Raums für öffentliche Willensbildung, eine immer weiter vorangetriebene Deregulierung aller Märkte im Interesse der transnationalen Konzerne und der radikale Abbau aller öffentlichen Sozialausgaben – können freilich, wie Klein argumentiert, weder mit herkömmlich “liberalen” noch “konservativen” egrifflichkeiten angemessen wiedergegeben werden. Ihr scheint am ehesten noch die Bezeichnung “corporatist” (im Sinne von: “von großen Konzerninteressen bestimmt”) zutreffend

Da in diesen aus der inneren Logik des “Neoliberalismus” erwachsenden Konsequenzen so außerordentlich wenig an Liberalität (im Sinne persönlicher und politischer Freiheiten) enthalten ist, ziehe ich es vor, den Begriff entweder durch passender erscheinende Bezeichnungen zu ersetzen (z.B. “Marktwirtschafts- Extremismus” oder “-Fundamentalismus”) oder ihn lediglich in Anführungszeichen zu verwenden. Da er im öffentlichen Leben freilich eine ziemlich dominante Position für die Bezeichnung dieser wirtschaftspolitischen Richtung gewonnen hat – was ich vor allem auf die propagandistischen Erfolge eben dieser Richtung zurückführe – , scheint es mir aber leider kaum möglich, ihn überhaupt zu vermeiden.

Trotz allem äußerlichen “shape-shifting” und entsprechend wechselnden Etikettierungen bilden die Hauptelemente der “neoliberalen” Ideologie einen konstanten und weitgehend gleichförmigen Komplex an Sichtweisen und Haltungen, der vor allem durch einen hohen Grad an Zwanghaftigkeit und einen allergischen Widerwillen gegen Infragestellungen gekennzeichnet ist. Eigentlich kann man dies schon an den theoretischen Grundannahmen dieser Ideologie erkennen. Sie geht von einem absoluten und unverrückbaren Ideal aus: von einem vor jeder auch noch so kleinen “Verunreinigung” streng zu bewahrenden “Gleichgewicht der freien Marktkräfte” von Angebot und Nachfrage, das dementsprechend auch grundsätzlich keinerlei Kompromisse mit anderen Anliegen oder Prinzipien zulassen darf. In diesem Sinne forderte zum Beispiel bereits Frank Knight – neben Friedman einer der Initiatoren der “Chicagoer Schule” –, dass deren Grundsätze den Studierenden nicht als zur Diskussion stehende Hypothesen, sondern als “geheiligte Erkennungszeichen des Systems” einzuprägen seien.2 Ein derart starrer Glaube an den exklusiven Besitz einer “alleinseligmachenden Wahrheit” ist in der Tat ein generelles Erkennungszeichen von sektenhaft-totalitären Denksystemen. “Heiligkeit” hat in solchen Zusammenhängen ja genau diesen Zweck: Personen oder Grundsätze von offener Diskussion, d.h. von kritischer Sichtung möglichst lückenlos abzuschirmen.

Dementsprechend teilt der “Neoliberalismus” mit anderen totalitären Ideologien auch eine ihrer charakteristischen Formen der Selbstrechtfertigung: Wann immer es sich zeigt, dass sich die gesellschaftliche Realität nicht an die eigenen Dogmen hält, könne die Ursache dafür nie und nimmer an Fehlern oder Unvollkommenheiten
des eigenen Systems liegen; die Schuld müsse – neben mancherlei finsterem Verrat und Verschwörung – in jedem Fall die Realität tragen, die sich (noch) nicht ausreichend an die Vorschriften des eigenen Systems gehalten hat. Genau wie in faschistischen, stalinistischen oder fundamentalistisch-religiösen Regimes Missstände damit “erklärt” werden, dass die Anordnungen eines unfehlbaren Führers – oder ein unfehlbarer Katalog göttlicher Gebote – (noch) nicht konsequent und radikal genug umgesetzt worden seien, so haben die Vertreter des “Neoliberalismus” die sozialen Verwüstungen, die ihre wirtschaftspolitischen Rezepte angerichtet haben, mit unfehlbarer Reflexartigkeit damit “erklärt”, dass die Anwendung ihrer Rezepte halt (noch) nicht weit genug vorangetrieben worden sei.

Parallel zu diesen praktischen Zwecken, denen die kompromisslose Rechthaberei
des “Neoliberalismus” so konsequent entgegenkommt, deutet sich auch ein
grundlegender psychologischer Zusammenhang an, der zwischen Realitätsverweigerung und schwerer sozialer Verwahrlosung besteht. Eine Ideologie und Politik, die einen frontalen Angriff auf die wirtschaftlichen und sozialen
Interessen der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaft betreibt, muss sich
zwangsläufig auf Strategien und Methoden massiver Einschüchterung stützen.

Anders könnte eine derart radikale Aufkündigung wechselseitiger Solidarverpflichtungen in einer Gesellschaft eigentlich nicht ernsthaft in Betracht
gezogen werden. Dies passt zur charakteristischen Erfahrung, dass maßgebliche Vertreter des “Neoliberalismus” ihren Hang zur sozialen Verwahrlosung mit einer dermaßen groben Unverfrorenheit zum Ausdruck bringen können, dass sie damit eine Art von Benommenheit erzeugen können. Wer mit solchen Äußerungen und
Verhaltensweisen konfrontiert wird, dem kann schon ohne weiteres einmal “die
Spucke wegbleiben”. Dies hängt nicht zuletzt mit einer gravierenden psychologischen Wirkung zusammen, die mit frontal arroganter Angriffigkeit und
entsprechendem Habitus meist erzielt werden kann: Als zutiefst sozial angewiesene Wesen fällt es uns Menschen wohl grundsätzlich schwer, auf direkte Angriffe gegen die grundlegende Würde von Menschen angemessen und mit ausreichender Geistesgegenwart zu reagieren; die dabei so grob verletzte Schamgrenze setzt tiefe (teilweise unbewusste) Angstreaktionen in Gang, die zumindest teilweise unsere Anfälligkeit für den Abwehrmechanismus der Identifizierung mit dem Angreifer mobilisieren. (Oberflächenpsychologisch mag man viele Beispiele von derart arroganten Äußerungen als “schamlos” bezeichnen; tiefenpsychologisch dürfte es sich freilich mehr um massive Reaktionsbildungen gegen überwältigende Schuld- und Beschämungsgefühle handeln.)

Einige besonders anschauliche Beispiele für diesen Zug zur Verwahrlosung lieferte etwa eine öffentliche Debatte zum Thema “Globalisierung” 6, die im Februar 2002 im Sitz der Wiener Industriellenvereinigung zwischen bedeutenden Vertretern und Kritikern des “Neoliberalismus” geführt wurde: zwischen dem “großen alten Professor” der Wirtschaftsuniversität Wien Erich Streissler und dem tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus einerseits, und dem Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister, dem vormaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler und dem Direktor der österreichischen Caritas Franz Küberl andererseits. Streissler ging in der Debatte unter anderem so weit, die Bestimmung in der deutschen Verfassung, dass “Eigentum verpflichtet”, als unerträgliches Ärgernis zu bezeichnen (und dazu noch sarkastisch anzumerken, dass in ihr “zum Glück” wenigstens nicht präzisiert werde, wozu…), und attackierte schließlich ein Anliegen wie das der katholischen Caritas, für die Überwindung der Armut in der Welt zu arbeiten, als ideologisch höchst abwegig, gefährlich und gar “unchristlich” (da Jesus doch verkündet habe, dass “die Armen immer unter euch sein” würden…). Wenn man sich auch nur mit einem Minimum an Einfühlung vergegenwärtigt, wie viel Angst, Elend, Zermürbung und Demütigung die Erfahrung von Armut für Menschen bedeutet, wird das kaum fassbare Maß an Verachtung und Verletzung der grundlegenden menschlichen Würde zumindest ansatzweise spürbar, das hinter einem Standpunkt stehen muss, eine Überwindung der Armut dürfe im Grunde nicht einmal angedacht, geschweige denn angestrebt werden. Wenn man darüber hinaus noch bedenkt, wie leicht es unter den heutigen materiellen Voraussetzungen in Wirklichkeit wäre, den Hunger (und fast alle grundlegenden sozialen Entbehrungen) auf der Welt zu beseitigen7, wird wohl auch eine unter Umständen betäubende Wirkung erkennbar, die durch die Wucht einer derart kaltschnäuzig vorgetragenen Position sozialer Arroganz erzielt werden kann.

Und in der Tat zielt der “Neoliberalismus” in seiner inneren Logik auf die Zerstörung jener in langen Zeiträumen gewachsenen zivilisatorischen Errungenschaften, die in den modernen Menschenrechten einen besonders prägnanten Ausdruck gefunden haben. “Soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Komplementarität unter den Menschen? Das universelle Band unter den Völkern, Gemeinwohl, freiwillig akzeptierte Ordnung, ein befreiendes Recht, Verwandlung der unreinen Einzelwillen durch die gemeinschaftliche Regel? Lauter alte Hüte! Archaisches Gestammel, über das die effizienten Jungmanager multinationaler Banken und anderer globalisierter Unternehmen nur lächeln können.” Während bisherige Zivilisationen kriegerische und gewalttätige Tendenzen durch Bande der Solidarität und wechselseitigen Verantwortung zu bändigen versuchten, preisen nun “die Piraten von der Wall Street und ihre Söldlinge von der WTO und vom IWF den Gladiator als soziales Rollenmodell”, glorifizieren sie die hemmungslose Konkurrenz unter den Menschen und behandeln damit “ganze Jahrtausende geduldiger zivilisatorischer Bemühungen
als quantité négligeable.”

Quelle: Psychologie der Finanzkrise (Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 10)

Link: http://www.mattes.de/buecher/psychohistorie/978-3-86809-030-7_berghold.pdf

Weiter Infos unter: http://www.psychohistorie.de/


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