Die Poesie des Destruktiven – eine subversive Kraft

Die Poesie des Destruktiven – eine subversive Kraft

La casa de la fuerza - Haus der Gewalt (Photo: Julio Calvo)

Angélica Liddell, spanische Autorin, Performerin, Schauspielerin mit Erfahrung im Kofferpacken für internationale Theaterfestivals, gastierte 3 Abende lang anlässlich der Wiener Festwochen im Tanzquartier. Mit im Gepäck hatte sie 7 Frauen. Darunter eine Ärztin für fachgerechtes Blutabnehmen auf der Bühne, das aus 6 Männern bestehende Orchester Solís (Mariachis) sowie den großartigen Pau de Nut, der nicht nur seinem Cello schöne Töne zu entlocken vermag, sondern sich darauf auch in verschiedenen Stimmlagen bis hin zum Countertenor selbst begleitet.

Musik spielt eine große Rolle im „Haus der Gewalt“ oder „La casa de la fuerza“ wie das Stück im Original heißt, ja sie ist nicht nur Hintergrundrauschen, sondern integraler, visualisierter Bestandteil. Nicht nur dort, wo sie von der Mariachi-Band oder Pau de Nut live performt wird, sondern auch dort, wo Liddell mit ihren beiden Kolleginnen sich zur Musikkonserve bis knapp vor dem Zusammenbruch in einem Laufmarathon verausgaben. Alle musikalischen Nummern handeln von gebrochenen Herzen, von Gewalt und ihrer Auswirkung und es ist erstaunlich, wie viel davon im mexikanisch-spanischen Liedschatz vorhanden ist. In den traditionellen Mariachi-Nummern aber auch in aktuellen Popsongs rechtfertigen Männer ihre Gewaltstrategien und klagen Frauen über ihr zerstörtes Leben und ihre emotionale Abhängigkeit, die sie nicht überwinden können. Darüber hinaus wird den Bach-Interpretationen von Glen Gould großer Raum gewidmet. Immer wieder bieten sie den akustischen Background zu einem grausamen Geschehen, das eigentlich weit ab von jeglicher Kunst angesiedelt ist. Und so, als wollte die Regisseurin Liddell den krassen Unterschied zwischen Kunst und dem Leben außerhalb jeglicher schöngeistiger Beschäftigung noch unterstreichen, lässt sie die Agierenden auf der Bühne dazu auch gerne die pianistischen Handbewegungen imitieren und Luft-Klavier spielen. Diese Gesten ziehen sich wie ein roter Faden durch das gesamte Stück und veranschaulichen zwei antipodische Haltungen. Das „richtige“ Leben hat mit Kunst nichts zu tun, aber ohne Kunst lässt sich das „richtige“ Leben nicht ertragen.

Der Abend besteht aus 3 Teilen, die sich mit Pausen über insgesamt 5 Stunden erstrecken. Für einige im Publikum ist dies definitiv zu lang denn nach der zweiten Pause lichteten sich die Reihen merklich. Wer jedoch ausharrte und sich einließ auf das Liddell-Spiel, das da heißt „Leid empathisch verstehen kann nur der, der selbst leidet, und sei es durch 5stündige Nötigung auf dem einem Theaterstuhl“, wer sich also auf dieses Abenteuer einließ, wurde bis zum Ende nicht nur mit einer wahren einprägsamen Bilderflut belohnt, sondern auch mit einem Stück, das in seiner Tiefe und Vielfalt so stark ist, dass es eine auf den ersten Blick nicht nennbare Summe an Erkenntnismöglichkeiten bietet.

Liddell setzt sich in ihrer Arbeit, die in Wien ihre deutsche Uraufführung erlebte, wobei dies durch Übertitel geschah und ein hohes Maß an Publikumskonzentration erforderte, mit ihrer eigenen Liebesgeschichte auseinander, die 2008 scheiterte. Konsequenterweise hat sie dies auf ihrer Homepage gleich im Intro vermerkt. Unter der Überschrift „Hijo de puta“ zu Deutsch „Arschloch“ ist das Foto eines menschlichen Herzens zu sehen und die Konnotation zu einem Mann, der ihr Herz gebrochen hat, damit unausweichlich gelegt. Ganz zu Beginn der Aufführung lässt sie ein kleines Vorschulmädchen auftreten und erklären, dass man für seelische Verletzungen ausschließlich selbst verantwortlich sei. Nach diesem kurzen, aber einprägsamen Statement darf es in einem rosafarbenen Tretroller-Flugzeug über die Bühne fahren, wobei Liddell durch dieses Bild die Geschichte nicht nur an den Beginn ihres eigenen Lebens setzt. Vielmehr legt sie eine Spur, die sich im Lauf des Abends nur als teilweise richtig herausstellen wird. Ihre Geschichte, und das wird rasch deutlich, steht exemplarisch für die Geschichte unzähliger Frauen die von ihren Männern psychisch oder physisch misshandelt werden. Die seelischen Verletzungen, die dadurch entstehen, fügen sie sich beileibe nicht selbst zu. Was bei vielen bleibt, ist der Verlust des Selbstvertrauens und der damit einhergehende Rückzug aus der Gesellschaft aber auch der Griff zu Suchtmitteln jeder Art. Liddells Frauen mutieren allesamt zu depressiven und liebesunfähigen Trinkerinnen und Kettenraucherinnen. Die Autorin, die auch als Regisseurin und als Schauspielerin agiert, intoniert in einer Szene von den 6 Mariachis begleitet, ein Lied, das von einer liebeskranken Tequila-Trinkerin erzählt. Und sie tut es in einer Weise, die unter die Haut geht. Ihr Lamento ist angesiedelt zwischen einer explosiven Anklage und dem beständigen Bemühen, sich die restlichen schmerzhaften Erinnerungsfetzen mit Alkohol aus dem Gehirn zu blasen. Das Bier, das sie sich während dieser Performance nicht nur in die Kehle, sondern auch reichlich über ihr eigenes Kleid verschüttet, fließt an diesem Abend noch in Strömen. Und auch zeitgedehnte Momente, wie jene, in denen Liddell mit ihren beiden Mitstreiterinnen ohne handlungstreibende Aktion an einem Küchentisch sitzt und raucht und trinkt, gibt es in der Inszenierung mehrfach. Wobei diese Dehnungen an die Grenzen der Machbarkeit im Theater gehen, was die Publikumsflucht deutlich macht. Und dennoch haben diese Längen ihre Berechtigung. Dies wird im mittleren Bühnenteil spürbar, in welchem die 3 Schauspielerinnen in einer Sisyphusarbeit dazu verdammt werden, schwere, dreisitzige Sofas auf der Bühne in Position zu bringen. Die anschließende Darbietung fordert Publikumssitzfleisch da in ihr – wie aus der Beschreibung eines Lehrbuches der Psychologie – die einzelnen Phasen einer schweren Depression durchdekliniert werden. Hier macht die Länge eines klar: eine Depression ist kein Sonntagsspaziergang und auch nichts, was von einem Publikum erfasst werden kann, welches damit vielleicht in einem Nebengeschehen im Theater konfrontiert wird. Die spanische Regisseurin setzt dieses Geschehen als Handlungsloop auf die Bühne, der schier nicht mehr enden will und schafft so die Transformation des eigenen Gefühles ins Publikum selbst. Gegen dieses hilft auch die schweißtreibende Körperarbeit mit Hanteln nichts, die Liddell sich selbst über Monate hindurch verordnet hatte. Auch ein Ortswechsel – die Flucht nach Venedig – bringt keine Verbesserung des Leidens. Der Wechsel vom inneren in den äußeren Schmerz funktioniert nicht. Das multimediale Tagebuch, dass Liddell dabei führte, verweist auf die Gräuel einer erneuten Eskalation des Gaza-Konfliktes und springt dabei aus dem eigenen Liebesleid über auf ein weltpolitisches Drama, das Abertausende Menschen seit Jahrzehnten erleiden. Und dennoch ist die Künstlerin zu diesem Zeitpunkt so von ihrem Schicksal gefangen, dass ihr all das, was um sie herum vorgeht „am Arsch vorbeigeht“. Ob der Palästinenserkonflikt, Obama oder auch das Geschehen am Theater. In diesem Moment bekennt sich ihr Text zum blanken Existenzialismus, dessen Menschenentscheidungen noch dazu als völlig nichtig gegenüber der allgewaltigen Natur aufgezeigt werden. Nichts vom Menschen bleibt, nichts ist wichtig und dennoch ist das Leiden unausweichlich.

Liddells Text ist gerade in der ersten Phase des Abends nicht nur kunstvoll, sondern auch höchst ausbalanciert. Kein Wort davon ist überflüssiger Ballast, vielmehr ist jedes auf die literarische Goldwaage gelegt. Das zeigt sich auch in jener Szene, in welcher die Protagonistinnen Kohlensäcke in die Bühnenmitte schleppen und dort zu einem schwarzen, verkohlten rechteckigen Flecken aufschütten, auf dem sie anschließend in blütenweißen Kleidern Platz nehmen. Die Deklination des Wortes „leben“ bleibt reine Deklination, denn letztendlich zerbricht eine nach der anderen beim Zurückschaufeln des staubigen Brennmateriales und zurück bleibt nichts als Leere, Hoffnungslosigkeit und Tod. Tschechows resignierende Schwestern fliegen dabei aus der Vergangenheit direkt auf die Bühne des Tanzquartiers, wo sie sich nicht nach Moskau, sehr wohl aber nach Mexiko sehnen. Und wo sie krampfhaft aber vergebens versuchen, sich den Sinn des Lebens in der Arbeit einzureden. Drastischer als in diesem Bild wurde wohl kaum jemals das Joch der Arbeit dargestellt, unter welchem die Menschen nicht ihre Erfüllung, wohl aber ihr eigenes Ende finden. Selbstbetrug bis zum Umfallen, ohne Aussicht auf eine Veränderung der Erkenntnis. Hier wirkt Liddells Poesie des Destruktiven nachhaltig, wenngleich und das mag vielleicht wie ein Widerspruch klingen, positiv. Denn das Nachdenken über das Joch der Arbeit ist nicht nur dann angesagt, wenn es darum geht, eigenen Schmerz zuzuschütten.

Gerade an dem Punkt, an dem man meint, dass die Künstlerin sich mit dieser Arbeit eine selbstverordnete Therapie gegönnt hat, kippt das Geschehen gänzlich und lenkt den Blick auf jene grauenhaften Geschehnisse, die in Mexiko angesichts der Drogenbandengewalt auf der Tagesordnung stehen. 3 Frauen, die nicht wie Schauspielerinnen, sondern wie Augenzeugen wirken, erzählen Geschichten von Gewaltexzessen und Ermordungen junger Mädchen und sogar Schwangerer und handeln dabei ihren Schmerz, ihre Wut und ihre Angst vor einer mit einfachen Friedhofskreuzen bestückten Szenerie ab. Dass auf dreien von ihnen magentafarbene leichte Kleider hängen, erschließt sich als Hinweis auf die Frauenbewegung, welche diese Farbe als Ausdruck von Frauenliebe und Unabhängigkeit wählte. Und tatsächlich geht Liddell soweit, von weiblicher Seite aus der Gewalt der Männer auf ihren Grund zu gehen und diesen radikal verändern zu wollen. Ihr Vorschlag, dass die Frauen mit ihren Söhnen Inzucht betreiben sollten und so Männer gebären, welche die sanftesten sein sollten, die man sich nur vorstellen könne, ist nur im ersten Moment grotesk. Dass es ihr dabei nicht um die tatsächliche Umsetzung dieser radikalen Idee geht, ist klar. Das das Denken jedoch dort beginnen muss, wo das Leben selbst beginnt, stößt viele neue Türen auf, hinter denen sich neue Denkmodelle verbergen könnten welche zu einer Veränderung der derzeitigen Situation herbeiführen könnten.

Dieser Konjunktiv der möglichen Veränderung bleibt auch in der Bildumsetzung bis zum Schluss aufrecht. Dabei lässt Liddell einen sanften Barden Liebesklänge verströmen – bis er von Juan Carlos Heredia abgelöst wird, der muskelbepackt auf der Bühne Marmorkugeln stemmt, ein Auto umwirft und mit Bierfässern Gewichte stemmt. Die romantische Vorstellung einer gelungenen weiblich-männlichen Revolution, die in Harmonie und Gleichheit mündet, wird weggefegt durch den Auftritt eines einzigen „Strongman“. Und es wird klar: Auch in naher Zukunft wird es von Männern getötete Frauen in Ciudad Juárez und Chihuahua geben. Auch in weiter Zukunft werden Herzen zu Millionen gebrochen werden und Frauen dadurch verstummen. Aber Kunst wie diese, manifestiert als Bühnenstück das durch die Lande zieht, bleibt dennoch nicht unbeantwortet. Liddell, die in einem Interview erklärte, sie wolle doch nichts sehnlicher als geliebt werden die Liebe aber als nicht lebbar darstellt, Liddell, die hin- und hergebeutelt ist von der Idee, dass Arbeit das einzige ist, was dem Leben einen Sinn gibt, Liddell die nicht mit Fäkal- und Kraftausdrücken in ihrem Stück spart und die Geduld des Publikums aufs Äußerste strapaziert, ausgerechnet sie sät mit dieser Inszenierung Frieden und den winzigen Samen Hoffnung, der Menschen dazu bewegen kann die Grenze zwischen Männern und Frauen niederzureißen und auf ihr Blumen der Versöhnung zu pflanzen.

Eine herausragende, wenngleich auch herausragend fordernde Inszenierung, die zu recht als Schlusspunkt an das Ende der Wiener Festwochen gesetzt wurde.


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