Die Ostdeutschen: Volk ohne Raum

„Ostdeutschlands Mief darf nicht auf den Westen abfärben“, fordert der in „Deutschland lebende Schriftsteller türkischer Herkunft“ (Wikipedia) Zafer Şenocak in einer Art offenem Brief, den der verdienstvolle „Tagesspiegel“ in mutmaßlich voller Länge veröffentlicht. Şenocak, von Haus aus Lyriker, stellt in dem Text seine Fähigkeit aus, von einer Welt zu erzählen, die es so nie gab, um zu beweisen, dass die Welt, wie sie heute ist, viel schlechter geworden sein muss.
So etwa, fabuliert der 51-Jährige, sei es um die Integration in der Westrepublik besser bestellt gewesen als im vereinigten Deutschland. Deshalb vermisse er „die alte Bundesrepublik“ und wünsche sich „eine Wiederbelebung westdeutscher demokratischer Traditionen“.
Welche das waren, sagt Şenocak zwar nicht. dafür aber breitet er ein Bild der Bundesrepublik aus, das an ein Werbeplakat erinnert. Da ist zum Beispiel „die Phase des Aufbruchs zwischen 1967 und 1974 mit ihrer grundlegenden Umorientierung der Gesellschaft, geprägt von einer starken kritischen Öffentlichkeit“, von der der türkische Dichter schwärmt, der seinerzeit 13 Jahre alt war und also als Zeitzeuge durchgeht. Was meint er?
Vermutlich die Phase der Geschichte, in der ein Riss durch Deutschland ging, in der Straßenschlachten stattfanden, Streiks die Wirtschaft lahmlegten, in der die NPD – damals eine Partei mit 50.000 Mitgliedern - mit nahezu zehn Prozent der stimmen in den baden-würtembergischen Landtag einzog, während Mitglieder der verbotenen KPD gezwungen waren, mit Unterstützung des DDR-Geheimdienstes eine neue Partei namens DKP zu gründen.
„Dieses reformierte Deutschland wagte die Konfrontation mit den autoritären Strukturen, mit antidemokratischen Traditionen und der schrecklichen Geschichte des „Dritten Reichs““, dummschwätzt der Dichter, der von deutscher Geschichte augenscheinlich soviel Ahnung hat wie der „Tagesspiegel“ von der Pflicht einer Qualitätszeitung, Fremdtexte zumindest grob auf Richtigkeit zu prüfen.
Hier nämlich stimmt nichts, nicht einmal das Gegenteil. Şenocak dichtet dem selbsterfundenen „demokratischen Deutschland“ den Mut zur „Konfrontation mit den autoritären Strukturen“ an, wo doch in Wirklichkeit die außerpalamentarische Opposition die Konfrontation mit dem deutschen Staat suchte, der durch eben jene autoritären Strukturen verkörpert wurde.

Die Ostdeutschen: Volk ohne RaumUnd so geht es weiter. Binnen weniger Jahre, flunkert der faktenferne Freigeist, habe Deutschland „eine hohe Anzahl von ausländischen Arbeitnehmern erfolgreich in den Arbeitsmarkt“ integriert. Weshalb es wohl, was Şenocak nicht erwähnt, am 23. November 1973 auch zu einem Anwerbestop für, zusätzliche Gastarbeiter kam, nachdem nicht mehr zu übersehen war, dass die Integration der bereits sesshaft gewordenen Italiener, Türken und Griechen sehr zu wünschen übrig ließ. Aber vielleicht spricht der türkischstämmige Romantiker des früheren Deutschland, in dem Bundeswehrkasernen noch nach Nazigeneralen hießen und nicht an jeder Ecke ein Holocaustdenkmal mahnte, ja von ganz anderen Zeiten. Denn ein Stück weiter im konfusen Text führt er diese – nie vorhandene – „Integrationskraft“ auch als „Antriebsfaktor des Wirtschaftswunders“ an. Seltsam nur, dass eben jenes Wirtschaftswunder im Jahr 1955 seinen Höhepunkt erreichte, die der große Zuzug der Gastarbeiter aber erst 1961 begann.
Senocak weiß nichts. Und er will wohl auch nichts wissen. Nichts von der großen Rezession 1966 / 1967, nichts von der Ölkrise 1973. Er schreibt Kurt Kiesinger einen Teil des gesellschaftlichen Aufbruchs zu. Einen anderen bekommt Richard von Weizsäcker, der 1969 erstmals überhaupt für den Deutschen Bundestag kandidierte. Und einen dritten Hildegard Hamm-Brücher, die bis 1976 nur im Bayerischen Landtag saß.
„Dieses liberale, weltoffene, wertorientierte Deutschland von Willy Brandt, Richard von Weizsäcker und Hildegard Hamm-Brücher“, schwärmt der kenntnisfreie Mann aus Ankara, „existiert seit 1990 nicht mehr“. An seine Stelle sei „das vereinte Deutschland getreten. Und ein Vergleich zwischen diesen beiden Staaten fällt nicht zugunsten des Nachfolgers aus.“
Alles nur Meinung, ins Blaue gesprochen wie die DDR-Einschätzung des weitgereisten Experten, der bei „Ostdeutschen, die zwischen den 30er und den 60er Jahren geboren sind, keinerlei Sozialisation in einer freiheitlichen Demokratie“ erkennen kann. Ganz im Unterschied zu menschen wie ihm, der in Ankara geboren wurde und seine ersten neuen Lebensjahre in der unter der Ägide des Militärs regierten Türkei verbrachte, sind DDR-Deutsche leichte Opfer „einer deutschen Identität, die wenig Berührung mit fremden Kulturen zuließ“. Deshalb „können sich nationalistische und rassistische Strukturen dort im Alltagsleben einfacher etablieren“, deshalb liegt dort „ein Mief über dem Land, der inzwischen auch auf den Westen abfärbt“.
Warum das? Ja, denkt Şenocak, „der Osten scheint die Sehnsucht der Deutschen nach einem ungebrochenen Deutschsein besser zu bedienen als der multikulturelle Westen mit seiner Vielsprachigkeit und Vielfarbigkeit“. Diese Sehnsucht werde „von einer Angst getragen“, der „Angst vor Überfremdung, vor der Öffnung Deutschlands gegenüber fremden Kulturen, die im Westen eine längere Geschichte haben als die Ostdeutschen in der gemeinsamen Republik“. Schließlich lebten Menschen wie er, Zafer Şenocak , schon seit den sechziger Jahren in Deutschland, die Ostler aber seien erst 1990 dazugekommen.
Mit anderen Worten: Wer mit einer aus dem fremden Osten importierten „Sehnsucht nach ungebrochenem Deutschsein“ alteingesessene Ureinwohner wie Şenocak stört, der riskiert, das ihm der Großautor vieler kleiner Gedichte demnächst auch noch erzählt, was er alles über die Geschichte der DDR nicht weiß.

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