Die Operation Mediterranea als politischer Akt

Die Operation Mediterranea als politischer Akt

Im Gespräch mit Sandro Mezzadra, einem der Initianten der Operation Mediterranea, deren Seenot-Rettungsschiff Mare Jonio kürzlich von der italienischen Regierung beschlagnahmt worden ist, wird schnell klar, dass für ihn die Rettung von Flüchtlingen vor der libyschen Küste nicht primär humanitären Charakter hat, sondern ein politischer Akt gegen die Kriminalisierung des humanitären Handelns und damit gegen die italienische Regierung ist. Mit ihm gesprochen hat der spanische Aktivist und Buchautor Amador Fernández-Savater. Übersetzung aus dem Spanischen: Walter B.

In der Wirklichkeit Italiens treten die politischen Tendenzen, die in den letzten Jahren in ganz Europa zu beobachten waren, verschärft zutage. Die Wirtschaftskrise, die Unfähigkeit der Linken, mit innovativer Sozialpolitik darauf zu reagieren, der autoritäre Nationalismus als Reaktion auf den Neoliberalismus, der Rassismus von oben und von unten, aber auch neue Widerstandsformen, seitens der Frauen etwa oder im Zusammenhang mit dem Thema Migration, Widerstandsformen die eine neue politische Kreativität erfordern: Wenn wir auf Italien blicken, so sehen wir Europa. Dieselben Hauptlinien werden sichtbar, welche die Gegenwart und die Zukunft prägen.

Mit Sandro Mezzadra haben wir über dieses «italienische Labor» gesprochen. In mehreren Büchern[1] setzt er sich mit der Wirklichkeit von Rassismus und Migration auseinander. Und als politischer Aktivist ist er seit vielen Jahren in unterschiedlichen Bewegungen und politischen Kämpfen aktiv. Kürzlich hat er zusammen mit Gefährten die Operation Mediterranea ins Leben gerufen, eine Plattform für Diskussionen und Aktionen rund um Migrationen, die inzwischen sogar über ein eigenes Schiff für Rettungseinsätze, die Mare Jonio, verfügt.

Amador Fernández-Savater: Sandro, kannst du mir zunächst eine konkrete Erfahrung schildern, die für die politische Situation in Italien aufschlussreich ist?

Sandro Mezzadra: Nun ja, ich bin letzten Sommer wieder nach Italien gezogen, nachdem ich drei Jahre lang weg war. Viel Zeit habe ich in der kleinen Stadt verbracht, in der ich geboren und aufgewachsen bin, eine Stadt an der Küste neben Genua mit einer bedeutenden Industriegeschichte. Als ich Kind war, in den 1970er Jahren, bekam die Kommunistische Partei in dieser Stadt jeweils 75 bis 80 Prozent der Stimmen, und seitdem wurde sie von einer Mitte-Links-Regierung geführt. Jeden Tag habe ich mir etwas Zeit genommen, um an den Strand zu gehen, kein Touristenstrand, sondern einer, der von den Menschen besucht wird, die in der Stadt leben. Das Niveau der Diskussionen dort hat mich erschüttert. Ich bin ja nicht weltfremd. Schon in den 1990er Jahren begann ich, die Kriminalisierung der MigrantInnen anzuprangern. Nun wurde mir allerdings deutlich, dass in den letzten zwei, drei Jahren eine Grenze überschritten worden ist.

Was meinst du damit?

Die Gespräche dort waren auf eindrückliche Art politisiert. Doch es war eine rassistische Politisierung. Die «Flüchtlinge» – nicht einmal die «MigrantInnen» – galten als Feinde: «Sie kommen aus Libyen. Gott sei Dank haben wir eine Regierung, die bereit ist, die Invasion zu stoppen!» Solche Dinge wurden gesagt. Ich weiss nicht, ob in Spanien darüber berichtet wurde, dass in einem belebten Stadtteil von Rom ein Typ mit einem Luftgewehr aus dem Fenster seines Hauses schoss und das zwei Monate alte Mädchen einer MigrantInnenfamilie verletzte. Am nächsten Tag waren am Strand zwei Kerle, die sagten: «Nächstes Mal bitte mit richtigem Blei.» Ist dir klar, wie grausam das ist? Mich hat’s beeindruckt, erschüttert.

Ein Erlebnis, das uns den Rassismus der Strasse vor Augen führt, dessen molekulare Dimension in Italien, im Gegensatz zum institutionellen Rassismus von oben.

Ja! Allerdings endet mein Erlebnis nicht damit. Danach ging ich an einen Strand nebenan. Und dort war es ganz anders: Der Strand war von MigrantInnen bevölkert, es wurden fünf, sechs Sprachen gesprochen, und es war spürbar, dass die MigrantInnen im sozialen Gefüge dieser Stadt verwurzelt sind. Wir haben also auf der einen Seite die Sprache des Hasses, ja der extremen Grausamkeit, und auf der anderen Seite die Normalität der Migration. Mir scheint, dass dieser Strand uns ein sehr verlässliches Bild der politischen Situation Italiens vermittelt: Der Rassismus und der Kampf gegen Migration sind heute in einer Situation entfesselt worden, in der Migration bereits völlig normal geworden ist. Es handelt sich nicht um einen Rassismus, der vertreiben will.

Was für ein Rassismus ist es dann?

Es ist nicht ein Rassismus, der darauf abzielt, alle MigrantInnen aus dem Land zu vertreiben. Denn MigrantInnen sind bereits ein fester Bestandteil dieses Landes. Sie machen etwa acht Prozent der italienischen Bevölkerung aus. Dieser Rassismus ist etwas anderes. Das ist ein Rassismus, der auf die eine oder andere Weise die Bedingungen für eine äusserst aggressive Disziplinierung und Unterwerfung von Männern und Frauen schafft, die bereits ein struktureller Teil des Landes sind.

Was ist in diesen drei Jahren passiert, wie erklärst du diese «Grenzüberschreitung» in Bezug auf den Rassismus?

Rassismus ist nichts Neues. Als Phänomen hat er eine lange Geschichte. Das zu verstehen, ist sehr wichtig. Es würde sehr lange dauern, über die Geschichte dieses aktuellen Rassismus zu sprechen. Um es kurz zu machen: Der Raum, in dem er Gestalt angenommen hat, wurde durch die Unfähigkeit der gemässigten reformistischen Kraft aufgetan – dem Partito Democratico –, der Krise, die Italien sehr hart trifft, etwas entgegenzusetzen. Die Fähigkeit fehlte völlig, angesichts der Krise eine innovative und wirksame Sozialpolitik zu betreiben. Hinzu kommt ein zweiter wichtiger Faktor: Die letzte Mitte-Rechts-Regierung, die Gentiloni-Regierung, hat eine sehr harte Politik gegen MigrantInnen gefahren. Diese Politik hat die Voraussetzungen für Salvinis heutiges Handeln geschaffen.

Wie beurteilst du den Rechtsrutsch, der ja nicht nur Italien, sondern den ganzen Globus erfasst hat? Man denke nur an den Brexit, an Trump, Bolsonaro und andere. Ist das reiner Rechtsextremismus, Faschismus?

Ich glaube nicht, dass ich dir endgültig darauf antworten kann. Ich spreche lieber von «parafaschistischen Tendenzen», in dem Sinne, dass man sich einer Rhetorik bedient, die deutlich faschistische Züge aufweist. Gleichzeitig dünkt mich aber, dass wir nicht von einer Neuauflage des klassischen Faschismus sprechen können.

Salvini bedient sich ausgiebig dieser Rhetorik. Zum Beispiel äusserte er sich am Tag von Mussolinis Geburtstag so: «Tanti nemici, tanti onore.» («Viel Feind, viel Ehr».) Das ist ein Zitat Mussolinis und entspricht der typische Rhetorik des historischen italienischen Faschismus. Hier gibt es eine Zäsur in der Geschichte der Lega Nord. Denn Umberto Bossi, ihr Gründer, betonte immer, dass der Antifaschismus eines der Vermächtnisse der Lega sei. Allerdings kann die Lega heute auch nicht einfach als faschistische Partei betrachtet werden. Sie hat auch andere Züge.

Deshalb ist es für mich sinnvoll, von parafaschistischen Tendenzen zu sprechen. Gleichzeitig glaube ich nicht, dass wir uns heute in einer Situation befinden, in der man etwas Ähnliches wie den historischen Faschismus wiederaufleben lassen kann. Er ist ein Etikett, das auf einer deskriptiven Ebene funktioniert; er ist aber kein Konzept. Wir müssen weiterhin beobachten, den Verstand gebrauchen und natürlich versuchen, gegen die offensichtlichen Bedrohungen vorzugehen, denen wir ausgesetzt sind.

Die Operation Mediterranea als offensiver Akt

Die Operation Mediterranea als politischer Akt

Sandro, jetzt möchte ich dich zur Initiative mit dem Schiff befragen. Bitte erkläre uns, wie diese entstanden ist, welche Erfahrungen und Entdeckungen ihr dabei macht und welche Erkenntnisse sich daraus ergeben.

Die Initiative geht auf den Juni 2018 zurück, als Salvini damit begann, die Häfen für die Schiffe von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu schliessen, die MigrantInnen aus Seenot gerettet hatten. Damals kam es im ganzen Land, insbesondere in den Hafenstädten zu Protesten. Zusammen mit Gefährten, mit denen wir viele politische Abenteuer erlebt hatten, fragten wir uns, was wir tun könnten. Wir hatten den Eindruck, dass etwas jenseits des Widerstands nötig sei. Widerstand als etwas rein Negatives verstanden, als eine Reihe von Praktiken, die sich gegen das Vorgehen der Regierung richten. Unsere Frage war: Was können wir tun, um aus dieser simplen Gegenposition herauszukommen?

Und so kam uns die Idee, ein Schiff zu chartern – als offensiver Akt, als eine bejahende Aktion. Es geht darum, die Initiative zu ergreifen und die Regierung zu einer Reaktion zu zwingen – und nicht umgekehrt. Wir sind keine Nichtregierungsorganisation. Besonders ich war in meiner Beurteilung immer sehr kritisch gegenüber der humanitären Begründung unseres Handelns und Humanitätsduselei. Wenn wir allerdings einer Kriminalisierung des humanitären Handelns die Stirn bieten wollen, müssen wir auf diesem Feld mitspielen, um ihm eine neue Bedeutung zu geben.

Wir gingen also auf die Suche nach einem Schiff. Und sogleich wurde uns klar, was das alles bedeutete: Technisch und vom Aufwand her ist es ein schwieriges Unterfangen. Und es war ein Abstecher in eine Welt, die wir nicht kannten: Wir mussten das Seerecht kennen lernen, mit den Hafengewerkschaften in Kontakt treten, professionelle Untertstützung suchen, die Flagge bekommen.

Die Flagge?

Salvini schloss die Häfen für Schiffe, die juristisch gesehen nicht unter italienischer Flagge fahren. Open Arms ist spanisch, Sea Watch niederländisch und so weiter. Wenn du eine italienische Flagge hast, ist es sehr viel schwieriger, dir die Einfahrt in einen italienischen Hafen zu verweigern. Denn ein Schiff unter italienischer Flagge ist italienisches Territorium. Doch eine solche Flagge zu bekommen, ist knifflig. Man muss die Hafengewerkschaften kontaktieren, das Seerecht kennen und so weiter.

Eine andere lebenswichtige Frage ist das Geld. Schon Machiavelli hat sich dahingehend geäussert: «Waffen und das Geld». Das Schiff ist die Waffe. Doch ohne Geld gibt es kein Schiff. Also traten wir in Kontakt mit der Banca Etica, die uns unter sehr guten Bedingungen ein Darlehen gewährte. Und so konnten wir schliesslich ein Schiff kaufen. Die ganze Initiative heisst Mediterranea und das Schiff Mare Jonio.

Es war also ein echter Lernprozess, in dessen Verlauf wir vielfältige Verbindungen knüpften. Zur Plattform Mediterranea gehören soziale Einrichtungen, Leute aus linken Parteien Italiens, Verbände wie der Arci (Italienischer Freizeit- und Kulturverband) und auch eine Nichtregierungsorganisation, nämlich Sea Watch. Ein Schiff für Seenotrettungseinsätze einsatzbereit zu machen, ist ziemlich aufwändig. Die Unterstützung von Sea Watch ist dabei sehr hilfreich, auch um Kontakte mit italienischen und anderen europäischen Häfen zu knüpfen.

Das war also ein längerer Prozess. Ein erstes Mal stachen wir am 3. Oktober in See, dem Jahrestag des Schiffsunglücks vor Lampedusa.

Was ist das Ziel dieser Aktion? Und was hat sich ergeben?

Das wichtigste Ziel ist, vor der libyschen Küste im sogenannten Zentralen Mittelmeer Überwachungs- und Dokumentierungsaufgaben zu übernehmen. Vor Libyen ist die Lage sehr schwierig. Erst vor kurzem wurde dort eine Such- und Rettungszone eingerichtet. Doch es fehlt ihr das, was man im Seerecht einen «sicheren Hafen» nennt, wo man die Personen hinbringen kann, die gerettet wurden.

Es ist eine äusserst widersprüchliche Situation. Libyen hat keine Regierung. Das Land ist noch immer gespalten und es herrscht ein Guerillakrieg. Ansprechpartner ist die international anerkannte Regierung. Italien hat dieser Regierung zwölf Schiffe der italienischen Küstenwache überlassen. Das bedeutet: Die libysche Küstenwache ist eine Erfindung der italienischen Regierung. Und sie wird ferngesteuert. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass ihr auch ehemalige Schleuser angehören.

Zudem gibt es in Libyen etwa dreissig äusserst brutale Haftzentren für MigrantInnen. CNN hat dokumentiert, dass es dort Sklavenarbeit und systematische Gewalt gegen Frauen gibt. Salvini liess verlauten, von Libyen her kämen keine MigrantInnen mehr. Die Besatzung unseres Schiffs hat allerdings dokumentiert, dass täglich Leute von Libyen aus in See stechen. Sie werden von der libyschen Küstenwache aufgegriffen und in jenen Zentren interniert.

Wir haben Überwachungs- und Dokumentierungsoperationen durchgeführt und an Rettungsaktionen teilgenommen. Gleichzeitig arbeiten wir an der Vernetzung von verschiedenen NGOs. Zusammen mit See Watch und Open Arms haben wir im Dezember die Allianz United4Med ins Leben gerufen. Trotz Salvini gibt es nun so etwas wie eine Flotte, in der vier Schiffe und zwei kleine Flugzeuge zusammenarbeiten. Diese Koordination ist sehr wichtig. Und nun sind wir in den Startlöchern, unsere Operationen mit dem Schiff Mare Jonio von neuem aufzunehmen.

Würdest du sagen, dass ihr die Aufgabe einer NGO übernehmt? Oder handelt es sich eher um eine politische Intervention? Oder ist es etwas von beidem?

Ich glaube, dass die Initiative politisch ganz gut funktioniert, und zwar in dem Sinne, dass es uns gelungen ist, rund um diese Themen neue Räume zu öffnen und unterschiedliche Akteure zusammenzubringen. Wir haben aufzeigen können, wie nötig es ist, selbst die Initiative zu ergreifen und nicht nur zu reagieren. Es haben schon etwa zweihundert Treffen stattgefunden. Und ich persönlich verliess jene, an denen ich war, jeweils sehr zufrieden. Ich erlebte dort nicht jene Routine, welche solche Versammlungen jeweils an sich haben, sondern viel Neugier, Lust und viel Enthusiasmus. Im Vergleich zu NGOs gibt es bei uns ein politisches Plus: Wir sprechen von einer Politischen Nichtregierungsaktion, und spielen so ein bisschen mit den Wörtern.

Andere Widerstandsbewegungen: Frauen, MigrantInnen

Was für andere Widerstandsbewegungen und spannende Initiativen entstehen in Italien gegen den Rechtsdrall und den Rassismus der neuen Regierung?

Täglich entstehen neue Felder des Kampfes und des Widerstands. Da gibt es zum Beispiel die operatori, die Leute, die in den Aufnahmestrukturen für MigrantInnen arbeiten und durch das Salvini-Dekret[2] äusserst bedroht sind. Man rechnet mit 36’000 Personen, die in diesem Aufnahmesystem arbeiten. Salvini möchte 18’000 davon entlassen. Das wird zu einer massiven Konfrontation führen.

Ein anderes wesentliches Feld des Widerstands in Italien ist die feministische Bewegung «Ni una de meno» («Nicht eine weniger»), zurzeit die stärkste Bewegung in Italien. Täglich kommt es zu neuen Angriffen gegen die Rechte der Frauen. Die feministische Bewegung war seit den 1970er Jahren noch nie so stark. Sie steht in der Tradition des italienischen Feminismus, nimmt zugleich aber neue Elemente auf. Das zeigt sich etwa daran, wie die Sprache und Praxis der Bewegung durch das Thema «Queer» geprägt werden.

Am spannendsten sind vielleicht die Berührungspunkte dieser beiden Bewegungen: So spielte zum Beispiel die feministische Bewegung eine herausragende Rolle im Kampf gegen das Salvini-Dekret, indem sie die geschlechtsspezifische Dimension der Angriffe gegen MigrantInnen betonte. Die beiden Bewegungen sind sehr unterschiedlich: Die feministische ist unter der Parole «Ni una de meno» vereint. Die Bewegungen um die Migration sind fragmentierter. Es handelt sich also nicht um eine Allianz zwischen zwei bereits bestehenden Bewegungen. Vielmehr gibt es eine äusserst interessante und vielversprechende Ebene der Übereinstimmung.

Europäische und globale Dimension

Zum Schluss bitte ich dich, Sandro, um ein paar Worte zur globalen Dimension der aktuellen Vorgänge – der Machtausübung ebenso wie des Widerstands –, zumindest aber zur europäischen Dimension.

Man könnte sagen, innerhalb der Linken gebe es zurzeit eine nationalistische oder eigenstaatliche Verlockung. Es wird versucht, der Rechten die Deutungshoheit über die Nation und die Nostalgie nach dem Wohlfahrtsstaat streitig zu machen. Man kokettiert sogar mit fremdenfeindlichen Positionen und der identitären Abschottung.

Welche politischen Alternativen sind vorstellbar angesichts der Herausforderungen, von denen wir eben gesprochen haben? Sind Bewegungen und Auseinandersetzungen auf europäischer oder globaler Ebene nicht nur wünschbar, sondern auch machbar?

Bestimmt gibt es da eine Schwierigkeit. So findet zum Beispiel keine gemeinsame Diskussion über die Europawahlen 2019 statt. Sie werden im allgemeinen als nationale Wahlen wahrgenommen. Gibt es auf europäischer Ebende ein Netzwerk der verschiedenen Bewegungen? Nein! Natürlich gibt es Beziehungen, aber kein Netzwerk. Das ist selbstverständlich ein grosses Problem und war vor fünfzehn Jahren noch anders …

Aber lass uns zuerst etwas über den Nationalismus und die real existierende Nation sagen, bevor wir über den imaginären Nationalismus der Linken sprechen.

Ich sage immer, man müsse auf die globalen Umstände achten, bevor man verstehe, was in einem Land vor sich geht. Der autoritäre Nationalismus zeigt sich in verschiedenen Teilen der Welt, nicht nur in den Vereinigten Staaten oder Brasilien, sondern ebenso in Österreich, in der Türkei, in Ägypten, China und so weiter. Die Frage ist nun: Was bedeutet dieser Nationalismus, was bedeutet dieser vom Nationalismus geprägte Gang der Dinge? Zunächst muss man festhalten, dass sich dieser Nationalismus irgendwie als Reaktion auf den Neoliberalismus in Szene setzt, aber diesen überhaupt nicht beseitigt. Er bewirkt eine Anpassung des Neoliberalismus, wendet ihn in einen autoritären Neoliberalismus. Das heisst, wir erleben neue, ziemlich monströse Kombinationen zwischen Nationalismus, Autoritarismus und Neoliberalismus.

Willst du damit sagen, dass die Politik von Trump oder die Auseinandersetzung zwischen der italienischen Regierung und der EU über den Haushalt und das Defizit in einem gewissen Sinne anti-neoliberal ist?

Nun, das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Aber in keinem der beiden Fällen würde ich von einem «Anti-Neoliberalismus» sprechen. Im Fall von Trump handelt es sich um Versuche, die Bedingungen des internationalen Handels neu auszuhandeln. Insbesondere beim Handel mit China ist das entscheidend. Im Fall Italiens ist es der Versuch, die Beziehung mit der Europäischen Kommission zu torpedieren. Wenn du allerdings die Massnahmen der Regierung Salvini-Di Maio genau anschaust, siehst du schnell, dass sie einen durchaus disziplinierenden Charakter haben. Was «Bürgergeld» genannt wird, ist ein Armenzuschuss mit äusserst disziplinierendem Charakter: So musst du zum Beispiel jegliche Art von Arbeit annehmen. Das ist neoliberale Politik.

Würdest du also sagen, der nationalistische und eigenstaatliche Diskurs ist nur in seiner Rhetorik anti-neoliberal, in der Praxis jedoch neoliberal?

So einfach ist das nicht. Es ist nicht reine Rhetorik; es gibt ja Veränderungen. Ich gebe dir ein Beispiel zur Frage der Migration, über die wir eben gesprochen haben. Im letzten Dezember gab es in Marrakesch einen Gipfel, organisiert durch die Vereinten Nationen, wo es um die Annahme der sogenannten «Globalen Vereinbarung zu Migration» ging. Wenn du den Text der weltweiten Vereinbarung liest, spricht er von Multilateralismus, von ständigen Verhandlungen, von der Arbeit als Humankapital, von den Fertigkeiten der ArbeiterInnen, von der Flexibilisierung beim Kauf von Arbeitskraft usw. Das ist ein klassisches Manifest der neoliberalen Globalisierung mit ein paar reformistischen Einsprengseln.

Nun gut! Trump hat ihn nicht unterschrieben. Die österreichische Regierung hat ihn nicht unterschrieben. Italien hat ihn nicht unterschrieben. Der Neoliberalismus, wie wir ihn vor der Krise im Jahr 2008 kritisch beschrieben haben, hat sich verändert. Es gibt tatsächliche Veränderungen, nicht nur solche rhetorischer Art. Auf der einen Seite haben sich die autoritären und disziplinierenden Züge des Neoliberalismus verschärft und seine verführerischen und «verheissungsvollen» Wesenszüge sind verschwunden. Auf der anderen Seite wird überall der Nationalstaat stark betont. Diese Betonung führt sogleich zu weiteren Akzenten: Es ist kein Zufall, dass die Frauen und die MigrantInnen, die historisch gesehen zur Nation ein schwieriges Verhältnis haben, die ersten Zielscheiben der Politik von Trump, Bolsonaro und Salvini darstellen.

Rufen diese Anpassungen und Veränderungen des Neoliberalismus nicht starke Widersprüche im Inneren des Kapitalismus hervor, die sich im emanzipatorischen Sinne nutzen lassen?

Ich glaube, der Nationalstaat ist für den Neoliberalismus heutzutage eine zusätzliche Legitimation, nachdem die Krise deutlich gezeigt hat, dass es dem Neoliberalismus alleine nicht gelingt, sich Legitimität zu verschaffen und den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten. Als Referenz für eine linke Politik allerdings kann der Nationalstaat nach dem Modell des Wohlfahrtsstaats der Nachkriegszeit nicht herhalten. Doch es geht von mir aus gesehen auch nicht um eine antistaatliche Haltung oder so etwas. Vielmehr öffnet sich hier ein Versuchs- und Erfahrungsfeld, wo man sich aus autonomer Sicht der Frage des Institutionellen nähert.

Um es besser zu verstehen: Heisst das, Sandro, es gibt für Teile der eigenstaatlichen Linken die Versuchung, den Nutzen des Nationalstaats zu bestreiten, nun, da zwischen Neoliberalismus und Nationalstaat neue Verbindungen entstehen. Und du schlägst vor, diesen neuen Rahmen zu nutzen, jedoch in anderer Art. Ist es so etwas?

Ich glaube nicht, dass man denselben Rahmen nutzen kann. Man muss daran arbeiten, neue Räume zu öffnen. Da das etwas abstrakt klingt, versuche ich es zu konkretisieren: Da sind zum Beispiel die Städte. Das Urbane, die metropolitane Dimension ist ein wichtiges Experimentierfeld, nicht mehr nur in Europa, in Barcelona oder Neapel etwa, sondern an vielen anderen Orten der Welt, zum Beispiel mit dem Experiment der Städtischen Bürgerschaft (Urban Citizenship[3]) für MigrantInnen in Nordamerika.

Ein anderes Beispiel sind die Erfahrungen der progressiven Regierungen in Lateinamerika, etwa in Brasilien und Argentinien. In den ersten Jahren ihrer Regentschaft waren einerseits die sozialen Bewegungen stark präsent. Diese entwickelten ihre Aktivitäten autonom weiter. Anderseits agierten diese Regierungen mit starkem regionalen Bezug, indem sie zum Beispiel den logistischen und strukturellen Integrationsprozess vorantrieben. Das dünkt mich ein interessanter Vorgang: Der Nationalstaat ist im Spiel, aber er ist nicht der Mittelpunkt des Geschehens, sondern bewegt sich: nach unten in Form der sozialen Bewegungen und nach oben zugunsten des regionalen Kontextes. Ich glaube, die Krise der progressiven Regierungen beginnt da, wo beide Aspekte geschwächt werden: Die sozialen Bewegungen werden einverleibt, und man greift erneut auf den ökonomischen Nationalismus zurück.

Jedenfalls ist das ein Beispiel, das verdeutlicht, was ich sagen möchte: Die Alternativen sind nicht Staat oder Anti-Staat, sondern eine andere Form des Experimentierens, ein anderer Rahmen, ein anderer Raum, eine andere politische Phantasie.


Anmerkungen:

[1] Auf Deutsch erschienen zum Beispiel Logistische Grenzlandschaften, Unrast Verlag, Münster 2017

[2] Das Salvini-Dekret, das im November 2018 im italienischen Parlament deutlich angenommen wurde, sieht drastische Verschärfungen im Sicherheits- und Asylbereich vor.

[3] Das Städtische Bürgerrecht zielt darauf ab, die grundlegenden sozialen Rechte nicht vom Nationalstaat und damit auch nicht von einer bestimmten Staatsbürgerschaft abhängig zu machen, damit so die Teilhabe am städtischen Leben für alle möglich wird, die in der Stadt leben, ganz unabhängig von ihrem Bürger- und Aufenthaltsrecht.

Bildnachweis:
  • ganz oben: Sandro Mezzadra im Gespräch, Foto Irene Oliva Batanero
  • in der Mitte: Mare Jonio, Foto Michelle Seixas
Das Original des Interviews ist auf dem Blog Interferencias auf eldiario.es erschienen.

Wer die Operation Mediterranea unterstützen möchte, kann das hier tun:

Die Operation Mediterranea als politischer Akt

 


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