Die NRW-Wahl - Eine Analyse

Von Oeffingerfreidenker

Von Stefan Sasse
Das Wahlergebnis in NRW ist in für viele wohl eine Überraschung geworden. Die CDU hat mit 26% eine historische Niederlage in der ehemaligen Herzkammer der Sozialdemokratie erlitten, die SPD mit über 38% ein so gutes Ergebnis wie lange nicht mehr, die FDP hat das Ergebnis von Schleswig-Holstein wiederholt und fast 8% gemacht, die Grünen bleiben knapp im zweistelligen Bereich, die Piraten sind mit rund 7% stabil drin und die LINKE ist mit 2,8% im Vergleich zu 2010 halbiert worden und klar aus dem Landtag geflogen. Keine Rolle spielen irgendwelche islamophoben Rechten wie ProNRW, was angesichts der Euro-Krise und der jüngsten Medienaufmerksamkeit um die Salafisten keine Selbstverständlichkeit ist. NRW, als bevölkerungsreichstes Bundesland, hat natürlich im Vergleich zu Schleswig-Holstein eine weit größere Signalwirkung für den Bund. Es ist jedoch auffällig, dass die Umfrageergebnisse bundesweiter Erhebungen immer noch drastisch von denen der einzelnen Landtagswahlen abweichen (so bleibt die FDP bundesweit stabil unter 5% und die LINKE drüber). Die Erklärung hierfür ist, abgesehen von den offensichtlichen Unterschieden zwischen den Bundesländern, auffallend simpel und wird in der öffentlichen Debatte kaum thematisiert: die Wahl ist eben doch eine andere Angelegenheit als die Umfrage. Den Umfragen wird schlicht zu viel Bedeutung beigemessen. Aber dazu werden wir gleich in der ausführlichen Analyse noch kommen. 

Sehen wir uns zuerst einmal das Desaster der CDU an: sie blieb noch einmal deutlich unter dem Debakel von 2010, verlor über 6% und erzielte das schlechteste Ergebnis in NRW seit der Gründung der BRD. Ausschlaggebend hierfür ist eine ganze Reihe von Faktoren. Zuerst einmal die Themensetzung im Wahlkampf: abgesehen von den CDU-Evergreens von Stabilität, Ordnung und Law&Order spielte das Thema "Sparen" und "Schulden" die Hauptrolle, ohne dass man je wirklich darauf eingegangen wäre. Wenn alle Parteien eine Lektion aus diesem Wahlkampf mitnehmen dürften, dann die, dass "Sparen" kein Wahlkampfthema ist, zumindest wenn man nicht ernsthaft daran geht. Die Idee der CDU, einen generellen Sparwillen zu bekunden, aber nicht zu sagen wo und wie, war ein klassischer Rohrkrepierer. Es war unseriös, von Anfang an, und das war die größte Hypothek der CDU. Dazu kam natürlich Norbert Röttgen. Der Mann ist ein armes Schwein; seit er das Steuer auf dem sinkenden Schiff der nordrhein-westfälischen CDU übernommen hat, wurde er mit Kritik überhäuft. In den letzten Wochen vor der Wahl nahm das Ausmaß gerade in den Medien die Form einer Hetzjagd an; gegen Röttgen wurde, ganz simpel, Meinungsmache betrieben. Von seinem Charakter (elitärer Schnösel) zu seinen Entscheidungen (kein klares Bekenntnis zu NRW) zu seiner Strategie (verkorkst) wurde alles kritisiert. Wie viel davon berechtigt war ist schwer zu sagen. Zumindest die Forderung, er solle sich für die Landespolitik bekennen, war schlicht Unsinn. Und dass er nicht gerade ein hemdsärmeliger Typ war ist eigentlich ebenfalls bekannt. Manche Leute passen in ein Bierzelt, andere eben nicht. Röttgen gehört zu den anderen, aber das alleine macht ihn nicht zu einem schlechten Politiker. Bevor Missverständnisse aufkommen - ich bin mit Sicherheit kein Röttgen-Fan, aber was mit ihm passiert ist, war nicht gerade fair. Ausschlaggebend aber war es nicht; der CDU wurde in Umfragen konstant ein solches Ergebnis vorhergesagt. Das Problem geht tiefer als Röttgen.


Auf der anderen Seite kann Lindner sich nicht gerade über fehlende Nestwärme beklagen. Seit er in seinem (zugebenermaßen grandios inszenierten) Comeback den Vorsitz der NRW-FDP übernahm war ihm ein Titelplatz sicher. Die Partei war in Umfragen zu dieser Zeit bei etwa 4%, erreicht hat sie jetzt das Doppelte. Es half sicher, dass er ordentlich Rückenwind aus den Medien hatte. Aber die NRW-FDP hatte auch vor drei Monaten bereits gute Chancen zum Überspringen der 5%-Hürde. Und damit wären wir wieder beim Umfragenthema. Denn die Umfragen haben einen Ungenauigkeitsspielraum von +/-3%. Werden der FDP also 4% prognostiziert, können das auch gut 7% sein, und Umfragen sind heutzutage ungenauer als früher, weil weniger Menschen Stammwähler sind und ein immer größerer Teil der Demographie überhaupt nicht erreicht wird. Die FDP war also wahrscheinlich nie so gefährdet, wie sie schien. Ich gehe übrigens auch davon aus, dass das bundesweit so ist. Denn in einer Umfrage zu sagen, man werde sie nicht wählen, und an der Wahlurne dasselbe zu tun sind zwei paar Stiefel. Umfragen sind eben das - Umfragen. Dazu kommt, dass die Schwäche der CDU wieder einige Wähler ins FDP-Lager getrieben haben dürfte, das mit Lindner auch ohne kräftige Medienunterstützung tatsächlich über eine strahlende Figur verfügte (wie die Schleswig-Holstein-FDP mit Kubicki). Und Menschen an der Spitze machen eben doch etwas aus. 


Das hat die LINKE ebenfalls leidvoll erfahren müssen. Ihr fehlt jeglicher Appeal, und in den Medien kam sie praktisch nicht vor. Das hat sicherlich mit der Parteilichkeit eben dieser Medien, vor allem WAZ und Konsorten, zu tun. Aber die LINKE hat darüber hinaus keine Geschichte. Wie die Bundes-FDP präsentiert sie nur die hässliche Seite einer zerstrittenen, schwachen Partei, die auf Verliererthemen setzt.

Hartz-IV ist nicht mehr der große Aufreger, der es noch zu Zeiten der Großen Koalition war, und die rhetorischen Distanzierungen von der reinen Lehre der Agenda2010 von CDU bis SPD haben der LINKEn viel Schwung genommen. Sie ist schlicht langweilig geworden, und für die real existierende Medienwelt gibt es keine größere Sünde als Langeweile. Der wohl wichtigste Faktor aber ist, dass Nordrhein-Westfalen SPD-Land ist. Die LINKE hatte hier schon immer einen schweren Stand, und seit die SPD mit Hannelore Kraft über eine starke Persönlichkeit verfügt und, vor allem, eine ordentliche Alternative darbietet, ist dieses Problem nur umso stärker zutage getreten. 


Und damit wären wir auch bei der SPD. Hannelore Kraft ist die bekannteste Persönlichkeit, mit ihrer Arbeit war man im Großen und Ganzen zufrieden, mit der von Rüttgers nicht - es gab also kaum Gründe, die CDU vor der SPD als Regierungspartei zu bevorzugen, was der SPD sicher gelegen kam. Trotz aller Beliebigkeit der Wahlsprüche ("NRW im Herzen") besaß die SPD jedoch auch das profilierteste Programm aller Parteien in dieser Wahl: Hannelore Kraft hat 2010 bereits offiziell mit dem Austeritätskurs gebrochen und ihre Bereitschaft ausgedrückt, schuldenfinanzierte Investitionen für Bildung aufzulegen. Sie steht damit für eine Alternative zu Merkels Politik, und NRW ist in den vergangenen zwei Jahren zumindest nicht schlecht damit gefahren. Die "Schulden sind böse"-Rhetorik der CDU konnte gegen die Kraft der Ergebnisse nicht anstinken. Das dürfte die wichtigste Erkenntnis überhaupt sein: wenn die Sozialdemokraten tatsächlich sozialdemokratische Politik machen, und wenn auch nur im Ansatz, wird das belohnt. Die Wahl in NRW dürfte deswegen eine Schwächung für Steinmeier und Steinbrück und eine Stärkung für Sigmar Gabriel sein, der bereits seit Wochen Stück für Stück die SPD auf einen klareren Oppositionskurs zu bringen versucht. 
Die Grünen dagegen haben ihr Ergebnis effektiv gehalten. Sie konnten nicht in dem Maß profitieren wie die SPD, aber das dürfte vor allem an den Piraten liegen, die 2010 noch keine Rolle gespielt haben. Der Einzug der Piraten ins mittlerweile vierte Parlament, mit einem so stabilen Ergebnis und einem so bevölkerungsreichen Land, dürfte sie endgültig etabliert haben. Dass sie ihren Höhenflug von zeitweise 12% halten ist, gelinde gesagt, unwahrscheinlich - aber ihre Ergebnisse in NRW und Schleswig-Holstein sind eine realistische Perspektive auch für den Bund. 


Das Ergebnis dürfte für Merkel ein klares Signal sein. Ihre Austeritätspolitik ist auch zuhause nicht besonders beliebt, zumindest dann nicht, wenn sie sich gegen Deutsche richtet. Sie wird also wenigstens rhetorisch davon abkommen müssen. Gleichzeitig ist Deutschland inzwischen liberaler geworden. Die Piraten eilen von Sieg zu Sieg; die Abkehr der FDP von ihren stupiden Steuersenkungsplänen (sowohl Kubicki als auch Lindner schließen höhere Reichensteuern nicht aus) und der zaghafte Versuch einer Öffnung hin zu den Progressiven, die Grünen und die SPD kommen in die Nähe einer eigenen Mehrheit. Diese Entwicklung kann für die CDU bis zur Bundestagswahl noch sehr problematisch werden, besonders weil sie immer weniger glaubhaft wird. Aktionen wie die Herdprämie, während gleichzeitig immer von Verantwortung und Sparen geschwafelt wird, zerbrechen das größte Pfund, mit dem sie wuchern kann. Sie muss jetzt darauf hoffen, dass Steinbrück und Steinmeier sich in der SPD durchsetzen und einen Nullwahlkampf gegen sie betreiben, wie bereits 2009. Sollten sich die Sozialdemokraten aufraffen, den Fiskalpakt scheitern lassen und ihr Boot auf Oppositionskurs drehen, nicht aus Prinzip, sondern mit der Macht der guten Argumente und Ideen, dann steht Merkel vor einem Scherbenhaufen. Es wäre Zeit dafür.