Rechnen, schreiben, denken mangelhaft! Trotzdem Abi und Studium? Bild pixabay
Einfach nur besser als eine 3 sollte es sein. Am Ende war es eine 2,7. «Ganz o. k.», sagt Liliane, 18 Jahre. Schliesslich will die Berliner Abiturientin Musik studieren, da spielt die Mathe-Note keine ganz so grosse Rolle. Liliane ist eine Ausnahme. In ihrem Jahrgang (der beste, seit es die Schule gibt), aber auch deutschlandweit: Immer mehr Schüler machen Abitur, und das mit immer besseren Noten, wie die Kultusministerkonferenz bei ihrer jährlichen Auswertung herausgefunden hat. Machte vor 40 Jahren noch weniger als ein Zehntel der Schüler die Reifeprüfung, sind es jetzt im Schnitt etwa 40 Prozent. Und es gibt noch einen bundesweiten Trend, den das Land Nordrhein-Westfalen besonders gut widerspiegelt: 2006 gab es dort 421 Mal die Bestnote 1,0. Vier Jahre später waren es 763. 2012 gab es 1200 «Einser-Abis». Die Zahl der Abiturienten ist um ein Drittel gestiegen, die Durchfallquote sinkt – allerorten.
Das geschenkte Abitur
Auf den ersten Blick sind die Zahlen ein Segen: Die Schüler freuen sich über ihre guten Noten, die Eltern auch. Die Schulen freuen sich, weil sie in den Rankings besser dastehen. Und Politiker brüsten sich mit ihrer offensichtlich erfolgreichen Bildungspolitik. Natürlich beschwert sich kein Schüler über ein geschenktes Abi. wir haben eine Noteninflation! Die Schüler werden nicht schlauer, die Messzahlen ändern sich.
Das ABC beherrschen alle? Sollte man meinen ... Bild pixabay
Schuld an der Entwicklung ist die Politik, aber auch die Gesellschaft selbst. Weil Forderungen nach einem Aus des dreigliedrigen Schulsystems populärer werden, bieten immer mehr Schulen das Abitur an. Schuld ist auch das wachsende Prestige des Abiturs in der deutschen Gesellschaft. Und nicht nur das: Ohne Abitur kommt man in Deutschland nicht mehr weit.
Denn Gymnasium, Abitur und Studium werden bei Eltern – auch in bildungsfernen Schichten – beliebter. Immer mehr Berufe, von der Hebamme bis zum Steuerberater, setzen ein Studium voraus. Eine hohe Abiturientenquote gilt als Ausweis einer erfolgreichen Gesellschaft, in Talkshows fordern Politiker mit Blick auf das Ausland mehr Abiturienten: «Frankreich hat eine Quote von 80 Prozent!» Diese Haltung setzt auch die Schulen unter Druck: Gute Noten sind gefragt, und dabei auch noch Qualität.
Auch einschlägige Schulgesetze leisten dem Trend Vorschub: Demnach hat jeder Schüler ein Recht auf individuelle Förderung. Versagt er, muss der Lehrer sich für das schlechte Abschneiden rechtfertigen – und vergibt doch lieber eine bessere Note.
Fatal sei auch das Zentralabitur, sagt Hans Peter Klein, Professor für Biologiedidaktik an der Universität Frankfurt. Dabei werden die Prüfungsaufgaben von einer zentralen Behörde vorbereitet. Früher hätten die Lehrer Aufgabenvorschläge an die Schulbehörde geschickt, die dann einen davon auswählte. Aber mit Blick auf Bayern wurde fast überall in Deutschland das Zentralabitur eingeführt: Das sei gerechter und garantiere ein höheres Niveau, hiess es. Aber Standardisierung heisse oft Vereinfachung, meint Klein warnend. Den Beweis hat er in einer 11. Klasse gefunden: Er legte den Schülern Mathe-Aufgaben aus der Analysis vor – eine aus der Zeit vor und eine aus der Zeit nach dem Zentralabitur. Das «Zentralabi» «bestanden» alle bis auf 2, im Vergleichstest scheiterten 21 von 22.
Minus mal Minus ergibt immer noch Plus?
Sie habe viel fürs «Abi» gelernt, sagt Liliane. Aber so richtig schwierig sei es dann doch nicht gewesen. Eigentlich sogar ziemlich leicht. Bei der Englischprüfung durfte sie ein zweisprachiges Wörterbuch benutzen, in Physik musste sie nur in den Unterlagen die passenden Formeln heraussuchen. Denn schon das Nachschlagen gilt als «Kompetenzwissen» – und das schneidet im Wettbewerb mit dem Fachwissen immer besser ab. Wurde etwa sprachliche Inkompetenz früher als Fehler angerechnet, fliesst sie heute kaum mehr in die Bewertungen ein.
Aber nicht nur das Abitur wird leichter – auch der Weg dorthin: Während es aufgrund der demografischen Entwicklung immer weniger Schüler und damit Schulen gibt, gibt es immer mehr Gymnasiasten. Zudem führt immer öfter der Weg über eine Gesamt- oder Berufsschule zum Studium. «Ein grosser Gewinn für die Durchlässigkeit», sagt Axel Plünnecke, Bildungsexperte am Kölner Institut der deutschen Wirtschaft. «Die Studentenschaft ist viel heterogener und vielfältiger geworden.» Doch ist es tatsächlich so einfach? Sieht man das Abitur als Menschenrecht, auf das jeder ein Anrecht hat, der sich bemüht – dann geht die Rechnung auf. Wer grosszügig «Einser-Abis» verteilt, macht sich zudem nicht der Elitenförderung schuldig. Doch bringt eine solchermassen verstandene «soziale Gerechtigkeit» ein Land weiter?
Eine hohe Abiturientenquote verspricht nicht unbedingt eine florierende Volkswirtschaft. Rainer Bölling hat den Zusammenhang zwischen Abitur und Jugendarbeitslosenquote in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Italien untersucht und stellt fest: «Je höher die Abiturquote, desto höher die Arbeitslosigkeit. Es ist deprimierend», sagt Bölling. «Man müsste diesen Akademisierungswahn stoppen.» Er fürchtet, dass das Abitur zum neuen Hauptschulabschluss wird – und dass dabei vergessen wird, wie sehr das deutsche duale System in aller Welt bewundert wird. Erst 2013 lobte es der US-Präsident Obama in seiner State-of-the-Union-Rede.
Das System schlägt zurück – oft schon an den Toren zur Universität: Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hinken die Mathe-Leistungen bei Studienanfängern oft um ein halbes Schuljahr hinterher, um die Leseleistungen ist es noch schlechter bestellt. Selbst Mathe-Erstsemester besuchen Stützkurse in Mathe, ein Drittel aller Bachelor-Studenten bricht das Studium ab. Plünnecke findet das nicht dramatisch: «Da müssen die Universitäten neue Aufgaben übernehmen. Dafür haben die jungen Leute ein grösseres interkulturelles Wissen und mehr Praxiserfahrung.» Nur: Wenn die Hochschulen die Aufgaben der Schulen übernehmen sollen – wer zahlt?
Düstere Aussichten
Die Leistungsanforderungen sinken überall – weshalb die Absolventen unter grösserem Druck stehen: Jedes zweite Bachelor-Studium ist mit einem Numerus clausus belegt, an manchen Universitäten bewerben sich mehr Absolventen mit einem 1,0-Schnitt, als es Studienplätze gibt. Wie lässt sich das Rad zurückdrehen? Erst einmal, sagt Bölling, müsste man das Rad anhalten: 2017 soll es nicht nur innerhalb der Länder, sondern länderübergreifend ein vergleichbares Abitur geben. Was das für den Notenschnitt bedeuten kann, will sich der Bildungsforscher gar nicht ausmalen.
Man könnte das Zentralabitur infrage stellen. Nur: Politisch ist das schwierig, auch weil die Reglementierung der Schulwahl anrüchig ist. Denkbar wären getrennte Noten für Kompetenz und für Fachwissen, sagt Plünnecke, oder den Numerus clausus durch Zugangsprüfungen zu ersetzen. Aber egal welcher Lösungsansatz: «Am System rütteln kann man nur, wenn die Leute nicht mehr denken: Nur wer studiert, ist was», sagt Bölling. Und: «Ich fürchte, wir müssen ganz unten anfangen, das Problem erst mal öffentlich diskutieren.» Unter den Schülern ist es längst so weit: In Internetforen tauschen sie sich über ihre Prüfungen aus und fordern sogar selbst, die Abiturientenflut zu stoppen. Liliane freut sich derweil auf ihr Musikstudium, bei dem nicht der Notenschnitt zählt, sondern das Talent.
Quelle nzz.ch
Lesen Sie hierzu auch:
Was verstehe ich eigentlich unter dem Begriff Allgemeinbildung?
Jeder redet davon, aber keiner weiß so genau, was sie eigentlich ist. Die Rede ist von der Allgemeinbildung. Googelt man den Begriff, werden unglaubliche 879.000 Treffer angezeigt, darunter Tests, Buchvorschläge, Weiterbildungsangebote und Vorlesungsreihen. Doch was versteht man heute wirklich unter allgemeiner Bildung? Was sollte man wirklich wissen?
Auch das noch
"Lernst du übel, musst du mit der Sau zum Kübel" - derart drastisch hatte Martin Luther einst für das Hochschulstudium geworben. Viele heutige Doktoranden haben für sich eine Abkürzung zum Wohlstand entdeckt. Sie kopieren die Arbeiten des Vorgängers oder des Mitstudenten oder beider. Für solche Fälle "wissenschaftlicher Unredlichkeit" hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft das Gremium "Ombudsman für die Wissenschaft" eingerichtet. Dort werden die Plagiats-Doktoren mittlerweile professionell aufgespürt und enttarnt. Offenbar haben viele Doktoranden, insbesondere der Medizin, das Baukastenprinzip von VW-Chef Martin Winterkorn für sich entdeckt.
Jubel, Trubel, Heiterkeit? Diese Leute besetzen teilweise heute schon Schlüsselpositionen in Politk, Schule, Universitäten, Unternehmen, Wirtschaft und Gesellschaft. Was kommt da auf uns zu? " Und er wandte sich mit Grausen ..."