Das Verständnis über das Zusammenwirken zwischen der Formwelt und der formlosen Welt ist eine Domäne der Ngakpas – der magischen Tantrikas. Der Umgang mit Dämonen und anderen Wesenheit ist bereits aus dem Lankavatara-Sutra im Kapitel „Schutz vor Dämonen“ erwähnt: „Zu dieser Zeit sprach der Erhabene zu Mahamati: ‚Du sollst diese magischen Sprüche (mantras) aus dem Lankavatara aufgreifen, die die Buddhas der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft rezitiert haben, heute rezitieren und künftig rezitieren werden.’…“ Und weiter führt der Buddha dort aus, dass dadurch keine Devas, Nagas, Yakshas, Asuras, Gandharvas, Bhutas, Mahoragas, Kumbhandas, Austarakas, Apasmaras, Rakshasas, Dakas und Dakinis etc. „keine Herabkunft erlangen“ werden. Weiteres zum Thema “Zaubersprüche” findet sich z.B. in der Sravastivada-Tradition und auch in den parita-Texten der Theravadins.
Als Padmasambhava auf Anraten von Shantarakshita und Einladung des Dharma-Königs Trisong Detsen nach Tibet kam, unterwarf er die verschiedensten Wesenheiten, die dort von der alten Bön-Religion angebetet worden waren, und stellte sie unter Eid. D.h. durch die Unterwerfung wurden sie in die buddhistische Praxis eingegliedert und als Schützer für die Lehren Buddhas verpflichtet. Andere Wesenheiten wiederum konnten nicht unterworfen werden, da sie einfach eine Art Freigeister waren, die sich zuvor weder von den Bön verpflichten ließen, noch nachher sich dem Buddhadharma zuwandten.
Wie auf rangdrol’s Blog mehrfach über die Ngakpa-Tradition erwähnt, liegt die Aufgabe der Ngakpas – der magischen Tantrikas – nicht nur darin, die fühlenden Wesen und die Menschen im besonderen zur Befreiung zu führen. Die Ngakpas sind auch das, was man landläufig als Dorfpriester bezeichnen kann, die neben dem überweltlichen Ziel auch das vorübergehende, zeitweilige Wohl der Wesen im Auge haben und dafür verantwortlich sind. Aus diesem Grund pflegen Ngakpas neben den verschiedensten buddhistischen Lehren auch Rituale und Heilpraktiken spiritueller Natur wie Mantra-Heilung, ebenso auch die medizinischen Künste, Geomantie und Astrologie bzw. Schicksalsberechnung. In ihrer Praxis begegnen sie immer wieder den verschiedensten Wesen der drei Bereiche – über der Erde, auf der Erde und unter der Erde – und müssen mittels Ritualen o.ä. für die Menschen einen Ausgleich schaffen.
Schützer oder nicht
Viele der hier dargestellten Wesenheiten sind keine Weisheitswesen, d.h. sie verfügen nicht über das Weisheitsauge. Auch haben viele von ihnen nicht die Bodhisattva-Stufen betreten oder sind auf ihnen nicht besonders weit fortgeschritten. Daher sind sie aus Sicht des Buddhadharma keine Objekte der Anbetung und Verehrung, sondern Dienstboten oder einfach unsichtbare, formlose, feinstoffliche Mitbewohner. Diesen kann man also mittels Gabendarbringung Aufträge erteilen, die sie gemäß ihrer Versprechen ausführen. Die jeweiligen Versprechen dieser Wesen, sofern sie Eidgebundene sind, lassen sich in den mythischen Schilderungen oder auch in den dazugehörigen Praxistexten nachlesen. Und manchen Wesen kann man einfach nur Gaben darbringen, da sie Wesen des Mitgefühls sind, zu denen man in einem bestimmten Schuldner-Gläubiger-Verhältnis steht.
Dann allerdings gibt es Wesenheiten, die eine bestimmte Bodhisattva-Stufe erreicht haben. Diese Wesen sind dann Weisheitsschützer und werden in gewisser Weise auch als Zufluchtsobjekte betrachtet und sind eben in der dreifachen tantrischen Zuflucht zu Guru, Deva und Dakini bei letzteren als Dharmapalas integriert. Diesen wird regelmäßig, am besten jeden Tag am Abend, ein Trankopfer dargebracht. Bei diesen Schützern unterscheidet man wiederum zwischen Wesen die auf der 6. Bodhisattva-Stufe sind und jene, die auf der 10. Bodhisattva-Stufe sind. Während letztere die Buddhaschaft erlangt haben, sind erstere einfach weltliche Schützer.
Zu guter letzt sei noch gesagt, dass Schützerpraktiken als Meditationsgottheiten sehr machtvolle Werkzeuge sind. Allerdings sollten diese von Einsteigern in den Pfad noch nicht praktiziert werden, wobei allgemeine Anrufungen und Trankopfer durchaus möglich sind. Und weiters sollte man sich nicht über die Bevorzugung eines Schützers vor einem anderen streiten. Schützerpraktiken sind oft sehr mit einer Schule, einem Praxiszyklus oder gar einer Person verbunden. Daher ist es ratsam, sich diesen Dingen respektvoll zu nähern, ohne Eitelkeit und sektiererischen Gedanken.
Aber betrachten wir nun die Wesen und ihre Wirkfelder.
Weltliche Wesen über der Erde
Diese erwähnten formlosen Wesen und Einflüssen können sich auf drei Ebenen zeigen. Da gibt es die Wesen, die oberhalb der Erde leben. Diese werden Za Dong (tib., gza gdong) und Gyukar (tib., rgyu skar) genannt. Das sind die Einflüsse, die von den Planeten und Sternen herrühren. Diese Wesenheiten werden verantwortlich für das Wetter, Blitze sowie Hagelstürme angesehen. Auch sagt man dem Za Düd (tib., gza bdud,; skt. Rahula) nach, dass er Sinnestaubheit, Epilepsie und Verrücktheit hervorrufen kann, da er den normalen Fluss der Lebensenergie unterbricht.
Weltliche Wesen auf der Erde
Dann gibt es die Wesen, die auf der Erde leben und diese stehen auch mit den vier Elementen in Verbindung. Dazu gehören die Tsen (tib., btsan), die The’urang (tib., the’u rang), die Chuglha (tib., phyug lha), die Nyän (tib., nyan), die Bardön (tib., bar gdon), die Gyalpos (tib., rgyal po), die Dralha (tib., dgra lha) und die Mamos (tib. ma mo).
Die Tsen sind Luftgeister und verfügen über große zerstörerische Kräfte. Auf den tibetischen Rollbildern – den Thangkas – werden sie als Krieger in voller Rüstung und auf einem Pferd reitend dargestellt. Sie verursachen Erdrutsche, aber auch Störungen in der Landschaft durch Feuersbrünste u.ä. Auf körperlicher Ebene attackieren sie das Herz. Unter den Tsen befinden sich aber auch machtvolle Dharmaschützer wie Tsi’u Marpo oder auch Tsimara genannt oder Dorje Setrab.
Die The’urang sind auch Kriegsgötter, die jedoch als Schmiede mit Hammer und Blasebalg dargestellt werden. Meist reiten sie auf einer Ziege und sind in Ziegenhaut gekleidet. Sie bewirken Fieber, Schwindelgefühle u.ä.
Die Chuglha sind Reichtumswesen und somit auch die Schutzherrn der Händler. Meist werden diese Chuglha auf einem gelben Pferd, seltener auf einem Löwen reitend dargestellt. Sie tragen eine goldene Rüstung sowie Banner und Schriftrollen. Auf gesundheitlicher Ebene sind sie für Rheuma, Schwellungen u.ä. verantwortlich. Allerdings sind die Chuglha auch für Sparsamkeit beim Besitz bzw. dessen Verschwendung zuständig.
Die Nyän sind Berggeister, die sich auf Berggipfeln, in Tälern, Felsen und Wäldern aufhalten. Meist werden Nyän in weißer Rüstung und mit Juwelenvase dargestellt. Sie kontrollieren das unüberlegte Fällen von Bäumen, Pflanzen, das Graben in der Erde und das Verunreinigen von heiligen Plätzen. Diese Angriffe auf ihren Lebensraum werden durch arge Konsequenzen wie körperliche Erkrankungen, Streitigkeiten im Haus und Chaos sowie geistige Verwirrtheit beantwortet. Weiters beschützen die Nyän die Tiere, besonders die Vögel, Pferde und das Rotwild. Auch unter den Nyän findet man viele eidgebundene Dharma-Schützer wie Tseringma und ihre Schwestern, mit denen Milarepa zu tun hatte oder die zwölf Tenma-Schwestern oder Nyenchen Tanglha oder Dorje Yudrönma.
Die Gyalpo sind „Königsgeister“ und gehören auch zu den „Acht Klassen der arroganten Götter und Geister“. Es gibt vier große Gyalpos, die als die vier Richtungsschützer bekannt sind und die Welt und den Dharma vor Angriffen durch übernatürliche Wesen beschützen. Aber es gibt auch Gyalpos, die bösartige Wesen sind und die Menschen befallen können. Diese Gyalpos sind im Grunde die Geister von bösartigen Königen oder hohen Lamas, die ihre Gelübde gebrochen haben. Wer „Herrn der Ringe“ kennt, findet in den Ringgeistern (Nazgul) große Ähnlichkeiten, wobei diese natürlich anders dargestellt werden. Die Gyalpos werden gewöhnlich mit einem gelben, breitkrempigen Hut dargestellt und meist reiten sie auf einem Pferd oder einem Schneelöwen. Gyalpos sind verführerische Geister, die in der Lage sind, Lebensgeist und Lebenskraft eines Individuums zu rauben. Auch können sie sich in Gestalt verwirklichter Meister manifestieren und Schüler bei ihrer Praxis in die Irre leiten. Der bekannteste Dharma-Schützer unter den Gyalpos ist Pehar.
Die Dralha sind Luftgeister und somit mit Sturm und Wolken verbunden. Meist werden sie als Kriegergötter auf einem Pferd reitend dargestellt. Dralhas können Schlaflosigkeit, Alpträume und sogar den Verlust des psycho-vitalen Prinzips – manchmal als „Vitalseele“ (tib., bla) übersetzt – bewirken. Aber auch auf innerer Ebene sind die Dralha mit dem subtilen Energiesystem des Körpers verbunden und kontrollieren den Fluss der Winde in den Kanälen. Das erklärt nämlich dann auch die verschiedenen körperlichen Störungen. Die Dralha sind auch bedeutsame weltliche Götterwesen, von denen fünf am Menschen lokalisiert werden. Molha – die weibliche Wesenheit in der linken Achsel, Soglha – die Lebensgottheit im Herzen, Pholha – der männliche Wesenheit in der rechten Achsel, Yullha – das Ortswesen oder Wesen des Landes am Scheitel und Dralha – das „Feindwesen“ auf der rechten Schulter – diese sind gewissermaßen die Familiengeister und begleiten den Menschen sein ganzes Leben lang und sorgen für Harmonie in der Familie.
Die Mamos sind Erdmütter und können Naturgewalten entfachen. Meist werden sie als schwarze oder graue Wesenheiten, die auf Pferden oder Maultieren reiten und verschiedenste magische Waffen wie z.B. Giftbeutel mit sich tragen, dargestellt. Die Mamos wirken auf innerer Ebene als Stützen und Erinnerungen an das Gewahrsein und gegen die diskursiven Gedanken. Sie reduzieren unsere Verwirrtheit oder zeigen sich in ihrem Zorn und verbreiten Chaos um uns zu beschützen. Die bekannteste Vertreterin dieser Klasse ist die große Mantra-Schützerin Ekajati.
Weltliche Wesen unter der Erde
Unter der Erde werden die Nagas angesiedelt. Das sind Wesen, die im Untergrund, in Seen, an Quellen oder in Flüssen leben. Sie werden als Wesen mit dem Unterleib einer Schlange und dem Oberkörper eines jugendlichen Menschen dargestellt. Meist halten sie auch noch Juwelen in der Hand.
Den Nagas kommt im gesamten asiatischen Bereich ein hoher Stellenwert zu, da sie als Wasserwesen für die Fruchtbarkeit zuständig sind. Sie korrespondieren beim Menschen mit seinem Wasser- und Flüssigkeitshaushalt.
Sie unterstehen der Herrschaft des westlichen Herrschers – Virupaksha. Im Buddhismus findet man die Nagas besonders auch im Zusammenhang mit den Prajnaparamita Sutras, von denen man sagt, dass Buddha sie den Nagas anvertraut hätte und schließlich von Nagarjuna gehoben wurden. Sie sind auch Wächter der Schätze, sowohl der irdischen Schätze – also Bodenschätze, als auch der spirituellen Schätze – der Termas.
Wenn das Umfeld der Nagas gestört wird, können sie rachsüchtig reagieren und Krankheiten verursachen.
Sonstige Geister
Neben den ausführlicher beschriebenen Wesenheiten gibt es noch eine Vielzahl anderer, auf die ich jetzt jedoch nicht weiter eingehen möchte, sondern sie einfach nur erwähne: die Nöjin (tib., gnod sbyin) – die Reichtumsschützer, die Sadag (tib., sa bdag) – die „Erdherren“, die auch in der tibetischen Astrologie Verwendung finden, die Lha – wohlgesonnene Götter, die Shinje (tib., gshin rje) – die Todesherrn etc.
Ein näherer Blick auf die Sadags lohnt sich allerdings. Die Sadags – als „Erdherren“ übersetzt – sind weniger lokale Geister, die sich in oder auf der Erde befinden, sondern sie finden sich besonders in der tibetischen Astrologie wieder. Im Baidurya Karpo – dem „Weißen Beryl“ – findet man eine ausführliche Beschreibung der Sadags und ihrer Zugehörigkeit zu den verschiedenen Häusern der Astrologie.
Die Sadags sind ähnlich einem Königreich organisiert, mit König und Hofstaat. Da gibt es einen König – The Se, eine Königin – The Khyim, einer weiteren Gefährtin – Hang Ne und einem ganzen Gefolge aus Sohn, Minister, Astrologe, Diener, Schatzwächter, Leibwächter, Stallmeister, Boten usw. Stört man die Sadags, dann zieht das natürlich auch unangenehme Folgen nach sich. Wie der Name schon sagt, sind sie meist mit der Erde verbunden und daher wird in tibetischen Kalendern angegeben, in welcher Richtung sich gerade welcher Sadag befindet. Daher sind Aktivitäten wie Graben in der Erde, d.h. Pflügen etc. in der im Kalender angegebenen Himmelsrichtung zu vermeiden. Das dient dazu, unliebsame Begegnungen mit ihnen zu vermeiden und somit keinen Schaden zu nehmen. Allerdings gibt es auch Rituale, die der Abwehr bzw. der Befriedung der Sadags dienen. Auf diese Weise sichert man sich einen ruhigen Umgang mit ihnen.