Jean-Yves Delitte ist einer der produktivsten Schreiber/Szenaristen der gegenwärtigen frankobelgischen Comicproduktion. Er veröffentlichte bislang drei längere Serien (Westminster, Die Neptune, Die neuen Zaren) und platzierte bei Ehapa den ersten Band einer bislang unbeendigten Serie rund um den Superschurken Tanatos.
Bezeichnend für sein Schaffen sind folgende Zutaten - ein präziser, lebensnaher, technisch hochausgereifter Strich, dezidiert politische Bezüge und ein sehr dunkler Humor. Man kann durchaus so weit gehen ihn als einen Comicthrillerautoren zu bezeichnen.
Bei der Serie, die ich euch heute vorstellen will, lädt er uns ein auf eine Reise in die Tiefen der exsowjetischen Transformationsgesellschaft. Bei "Die neuen Zaren" finden wir alle Problematiken vor, an denen die jungen Demokratien des ehemaligen Ostblocks kranken - weitläufige Korruption, politischer Extremismus und massive Gewalt. Die Serie ist in zwei Handlungsstränge (Band #01-02 & Band #03-04) unterteilt, die lose miteinander verzahnt werden. Mich störte beim Wechsel zwischen beiden Erzählsträngen der offensichtliche Twist der Story, aber über diesen Makel kann man auch hinweggehen.
Die ultrarealistischen Zeichnungen geben dem Setting einen äußerst lebensnahen Anstrich, dessen Reiz offensichtlich ist. Im ersten Szenario werden wir gemeinsam mit dem Rüstungskontrolleur Juri Wladimir in die eisigen Weiten von Murmansk versetzt, wo der Raub von Nuklearwaffen untersucht werden soll.
Thrillertypisch wird der Ermittler zum Gejagten und muss sich seines Lebens erwehren, weil er vor dschihadistischen, kaukasischen Extremisten und dem russischen Geheimdienst (der ein gefährliches Doppelspiel spielt) fliehen muss. Eine Spur von Toten illustriert seine Reise durch das russische Schattenreich.
Die Waffen (mit Mehrfachsprengköpfen versehene Torpedos) werden aus einem U-Boot gestohlen, dessen Mannschaft zur Verdeckung dieser Tat ein eisiges Grab in der Barentssee finden wird - eine Parallele zum Unglück der Kursk ist sicherlich intendiert.
Regierungsvertreter handeln mit diesen Waffen, spielen sie Extremisten in die Hände und versuchen gleichzeitig die Waffen nach der Zahlung der Ware wieder in ihren Besitz zu bringen. Natürlich muss dieses brandgefährliche Hasardeurmanöver scheitern und so bewegt sich ein mit einer Atomwaffe versehener Güterzug gen Moskau.
Delitte gelingt der Spagat zwischen einer fantasievollen Thrillergestaltung und realistischen, handfesten politischen Überlegungen, die man so auch sicherlich in den Alpträumen eines jeden Konfliktforschers finden kann.
Hochideologisierte Extremisten gelangen in den Besitz einer Massenvernichtungswaffe und erpressen den Staat. Ähnlich wie in Pakistan überkreuzen sich auch hier Gotteskriegerideen und Regierungsinteressen. Man glaubt den Verblendeten gewachsen zu sein, sie kontrollieren zu können, verkennt aber die tatsächlichen Absichten der Fanatiker.
Der zwei Teil endet mit der Zündung der Bombe im Herzen Moskaus und die Flucht von Juri Wladimir scheint zu Ende zu sein, jedoch naht hier der oben angerissene Storytwist - es kommt nicht wirklich zu einer abschliessenden Klärung.
Das Abschlussbild des zweiten Teils wird in der Fortsetzung nicht wirklich wieder aufgenommen, stattdessen befindet man sich plötzlich (zeitlich etwas unbestimmt) in einer vom Bürgerkrieg gefährdeten zentralasiatischen Republik - in der für die Ölforderung und -verladung immens wichtigen Hafenstadt Baku.
Bei der zweiten Storyline kann von einer ausgereifteren Erzählweise gesprochen werden, der Anteil an reinen Actionelementen wird zurückgefahren und es kommt zu der Ausbildung eines klugen politischen Szenarios, welches eine große Wirklichkeitsnähe besitzt, angesichts der Tatsache, dass es immer wieder zu strategischen Anschlägen auf die neuralgischen Punkte der Weltwirtschaft kommt.
Einige nationalistische Freischärler versuchen mithilfe von international agierenden Extremisten den Sturz der Regierung herbeizuführen. Im Gegensatz zu den ersten beiden Teilen erhalten diese Akteure ein individuelles Gesicht, ein nachvollziehbares Motiv und ein psychologische Tiefe, die ich in der ersten Storyline etwas vermisste.
Auch hier spielen Terroristen ein tragende Rolle, aber ihre Motivationen sind widersprüchlicher, während der nationalistische Untergrund sich gegen die militärischen Druck der Regierung stellt, versuchen andere nur die Region zu destabilisieren. Es kommt zu einer Zuspitzung dieses internen Konflikts, als die international agierenden Brandstifter ihre nationalen Hilfstruppen opfern, um im entstandenen Chaos große Devisenreserven in Sicherheit - sprich in ihre Kriegskassen - zu bringen.
Juri Wladimir gerät auf eine etwas fragwürdige Weise zwischen diese Fronten, während sich die ersten beiden Bände durch eine stringente und logisch nachvollziehbare Erzählweise auszeichneten, wirkt das Einbetten der Identifikationsfigur hier etwas krude und bemüht, ein Bruch in der Qualität der Serie, die man offen bemängeln muss.
Trotz allem gelingt es dem Autor auch in der zweiten Storyline fesselnd zu erzählen und überzeugende Bilder zu verwenden. Die Opferung des Widerstands durch die weltweite operierenden Söldner erinnert an die bewusst in Kauf genommene Tötung der U-Bootbesatzung im ersten Teil. Er fängt die schmutzigen Regeln der Politik in treffenden Bildern ein, hier entscheiden heimtückische Strategien über das Wohl des Einzelnen. Man könnte auch von einer diffusen Konfliktkritik sprechen, welche Delitte hier ausformuliert.
Leider endet der vierte Teil etwas abrupt und ich kann mich dem Eindruck nicht erwehren, dass sich der Schreiber der Serie nicht mehr mit aller Aufmerksamkeit widmete - bedauerlicherweise.
Als Resümee kann folgendes gesagt werden: "Die neuen Zaren" überzeugen durch ein atemberaubende Visualisierung, hohe Spannung, stimmige Bilder und eine (bis auf einige Ausfälle) einleuchtenden Story, die sich beileibe nicht hinter den Thrillern des Buchhandels verstecken muss.
Hier findet ihr die Bände #01, #02, #03 & #04.