Die "neuen" Ökosysteme

Im Naturschutz sollte nicht nur unberührte Wildnis zählen. Gerade in heutiger Zeit haben viele durch den Menschen veränderte Ökosysteme einen hohen Wert.

Aus: Spektrum der Wissenschaft, Februar 2010

Im Umweltschutz macht eine neue Bewegung auf sich aufmerksam. Nach Ansicht einiger Forscher kann ein Waldgebiet, das menschlicher Einfluss stark verändert hat, mitunter ökologisch ähnlich viel leisten wie unverfälschter Urwald. Manch eine verwilderte Plantage, so heißt es, sei mindestens so artenreich und biologisch produktiv wie der Ort vor dem Eingriff gewesen war.

In der Februar-Ausgabe von „Spektrum der Wissenschaft“ diskutiert die amerikanische Wissenschaftsautorin Emma Marris diesen Standpunkt. Sie erwähnt unter anderem artenreiche Wälder auf Hawaii, deren Bäume neben einigen wenigen einheimischen Arten ein buntes Gemisch aus aller Welt darstellen. Viele Biologen würden solch einen Wald auch heute noch als minderwertig einstufen. Doch eine kleine Fraktion der Forscher hält solche Gebiete für wertvoll.

Diese Ökologen schufen dafür den Begriff "neue Ökosysteme". Sie meinen hiermit durch den Menschen einst veränderte, sich nun aber längst wieder selbst überlassene Wildnis. Nicht immer hat der Mensch die Flächen früher bewirtschaftet. Die Wälder Hawaiis hat er teils nicht einmal betreten. Aber er schleppte fremde Tiere und Pflanzen ein, die sich ausbreiteten und nicht selten auch dazu beitrugen, einheimische Arten zu verdrängen oder sogar auszurotten.

Warum treten Ökologen für den Wert der neuen Ökosysteme ein? Teils aus Pragmatismus: Sie wissen, dass schätzungsweise 35 Prozent der Landfläche der Erde inzwischen als neue Ökosysteme eingestuft werden müssen. Sie liegen wie Flickenteppiche inmitten kultivierter Flächen und urbaner Regionen.

Teils besteht ein Forscherinteresse: Die neuen Ökosysteme bieten anscheinend im Prinzip die gleichen Wechselbeziehungen zwischen Arten und ähnliche biologische Entwicklungsprozesse wie unberührte Landschaften. Sogar das Wesen von Evolutionsprozessen lässt sich hier studieren. Aber auch der praktische Nutzen ist nicht zu unterschätzen, leisten doch diese Gebiete oft die gleichen Servicefunktionen oder "Ökosystemdienste" wie die Vorgänger. Auch jene neuen Landschaften filtern und speichern Wasser, bereiten neuen Boden und schützen ihn vor Erosion, erzeugen Sauerstoff und fangen Kohlendioxid ab, und dergleichen mehr. Die Befürworter des neuen Konzepts betonen zudem, dass unter heutigen Verhältnissen nicht selten einheimische Arten von den eingeschleppten Spezies profitieren. Nur in Ausnahmefällen würden die Fremdlinge heimische Arten verdrängen.

Letztlich geht es auch um eine Wertediskussion. Manchen Forschern liegt am meisten an dem, was über Jahrmillionen entstand, und betonen seinen Erhalt. Andere schätzen vorrangig die Dynamik und Bewegung in der Natur, die es auch ohne den Menschen immer gab. Diese Ökologen plädieren für einen neuen Blick auf manipulierte Lebensräume.

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