Die natürlichen Verleumder der Armen

Von Robertodelapuente @adsinistram
Die Schlagzeile, Ärztepräsident Montgomery hätte erklärt, armen Menschen gehe es in Deutschland aus medizinischer Sicht schlechter als denen, die nicht unter Armut litten, klang vielversprechend. Immerhin hatte der Mann tags zuvor klargestellt, dass er ein Gesundheitswesen, in dem alle dieselbe Versorgung erhielten, für "sozialistischen Einheitsbrei" erachte.
Letztlich kehrte Montgomery inhaltlich nicht um, sondern unterstrich seine elitäre Attitude. Denn es seien vor allem Tabak, Alkohol und Fettleibigkeit, die arme Menschen früher sterben ließen. Genau dort bestehe Handlungsbedarf. Es war also kein progressiver Impuls, der den Ärztepräsident anleitete, sondern die elitäre Überheblichkeit, bei Unterschichten würde es sich größtenteils um fette Säufer und dicke Raucher handeln.

Dass arme Menschen grundsätzlich rauchen und saufen ist die Wahrheit, auf die sich die Eliten in diesem Lande vereinbaren konnten. Auf dieser Grundlage stutzte man den Regelsatz der Sozialhilfe und vor einiger Zeit sprach sich Steinbrück gegen eine Kindergelderhöhung aus, damit dieses nicht in Zigarettenschachteln investiert würde. Die Enthaltungsbewegungen des 19. Jahrhunderts waren die Wegbereiter. Sie schrieben sich die Abstinenz aufs Panier; die Prohibition sollte dann ihr größter politischer Erfolg werden. Die Inszenierung war schon damals eine vom frömmelnden Bildungsbürgertum initiierte, die sich gegen die armen Geschöpfe aus dem Industrieproletariat richtete.
In einer medizinischen Wochenzeitschrift von 1848 schrieb Rudolf Virchow mal, dass "die Ärzte [...] die natürlichen Anwälte der Armen [seien]", womit "die soziale Frage [...] zu einem erheblichen Teil in ihre Jurisdiktion [falle]". Schon zu Virchows Zeit waren diese Anwälte gut sozialdarwinistisch und von Malthus geschult - er selbst leugnete den Darwinismus generell, weil er eine Gefährdung für die öffentliche Ordnung darstellte, wenngleich er dessen Thesen für grundsätzlich richtig erkannte.
Welches Mandat hat Montgomery da für die Armen an sich gerissen? Es gleicht dem Weltbild eines progressiven Liberalen im Kaiserreich. Ein wenig helfen, ein wenig das Leid anerkennen, die Misere aber im gewollten und gewählten Lebenstil des Proletariats suchen. Dieses lebe nun mal in Sittenlosigkeit und dem aufgeklärten Bürger komme es zu, diese unmündige Gesellschaftsschicht gleich einem Kinde an die Hand zu nehmen, ihr Hilfestellung zu leisten. Woher sollen es diese ungebildeten und ungehobelten Menschen auch besser wissen? Das Know-How ist schließlich eine Leistung des liberalen Bürgertums. Helfen und gleichzeitig verachten: Das ist die große Benefizleistung der protestantischen Lebensart im "Geist" des Kapitalismus.
Die Ärzteschaft wähnte sich in deutschen Landen stets als radikale Speerspitze dieser Haltung, die jedoch jegliche menschliche Regung aufgegeben hat, um rein wissenschaftlich den Dienst an der Gesellschaft zu tun. Die Grundgedanken zur Sozialhygiene stammten von Ärzten und spätestens seit Hans-Henning Scharsach wissen wir, dass Ärzte zu den geistigen Wegbereitern und ersten Parteigängern des deutschen Faschismus zählten.
Montgomery soll jetzt nicht in diese Nische gedrängt werden, aber feucht ist der Schoss unterm Kittel immer noch, aus dem es kroch. Die sozialdarwinistischen Grundgedanken, die die Ärzteschaft dazu motivierte, sich für eine diktatorische Volksmedizin aussprechen, um die die Volksgesundheit gefährdenden Elemente zu bannen, sind immer noch präsent. Die von Standesdünkel triefende Andichtung und Verleumdung, mit der bürgerliche Eliten Menschen in armen Verhältnissen einschätzen, war schon mal der Nährboden einer selektiven und sozialdarwinistischen Medizin. Die "natürlichen Anwälte der Armen" sind in diesem Lande noch immer die traditionellen Verleumder der Armen gewesen. Montgomery Furcht vor dem Sozialismus und seine klassenspezifische Einordnung der Armut als Zustand voller Laster, machen das mal wieder deutlich.