Die Dudjom-Linie hat unterschiedliche Vorgänge für die Übertragung der esoterischen Nyingma-Lehren und Ritualzyklen, einschließlich der Familiennachfolge, des Wiedergeburtsschemas und der Offenbarung der Schätze (gterma) zusammengebracht. Man kann diese Synthese durch drei Varianten von Reinkarnationen, die in der Familienlinie vorgefunden werden, erkennen. Zuerst und tonangebend veranschaulicht Jigme Tenpa’i Nyima als der dritte Dodrubchen das normative Schema für wiedergeborene Lamas in Tibet, zusammengesetzt aus einer Linie aufeinanderfolgender Tulkus (sprul sku) verbunden mit einem monastischen Sitz, jeder nach dem Tod des vorherigen wiedererkannt und inthronisiert. In seinem bahnbrechenden Artikel zu diesem Thema datiert Turrell Wylie (1976) diese tibetische Innovation der Wiedergeburt ins 14. Jahrhundert während der Laufbahn des Kagyü-Herrschers Rangjung Dorje und suggeriert ihre Wichtigkeit als einen Mechanismus, der das persönliche Charisma eines Lamas in das Charisma eines Amtes verwandelt, wodurch die administrative Kontinuität für die klösterliche Nachfolge und später die „hierarchische Form der Regierung“ unter den Dalai Lamas in Zentraltibet erleichtert.
Schon früh haben sich daher auch die Nyingma [das System der] Wiedergeburt in die aufkommende Schatztradition angeeignet. Die Autobiographie des Tertön Nyangral Nyima Özer aus dem 12. Jahrhundert – während aber das Datum ihrer Verfassung ungewiss verbleibt – beansprucht für ihn, dass er die Wiedergeburt von Trisong Detsen (Phillips, 2004) sei. Das ist eine andere Form der Reinkarnation, besonders in der Schatztradition, die die früheren Leben eines Tertön bis ins 8. Jahrhundert zurückverfolgt, um seine oder ihre Offenbarungen als Lehren von Padmasambhava oder eines vergleichbaren Meisters zu legitimieren. Als ein Beispiel dieser zweiten Variante führt der Tertön Drime Özer seine früheren Leben durch Longchen Rabjam auf die Prinzessin Padmasal aus dem 8. Jahrhundert zurück, die gemäß der Schatzüberlieferung von Padmasambhava vorübergehend wiederbelebt worden ist, nachdem sie im Alter von acht verstarb, um esoterische Wissen weiterzugeben, die später als Schatztexte verborgen wurden.
Die Auffassung der Schatztradition über Wiedergeburt erfordert keine lineare Nachfolge von Inkarnationen und die Genealogie von Dudjom Lingpas früheren Leben veranschaulicht gut diesen Punkt. Nach einem zeitlosen Verweis auf seine Identität als Emanation von Vajradhara in Gestalt des Yogis Nuden Dorje ist der erste in der Liste von Dudjom Lingpas früheren Leben Shariputra, der ihn als einen herausragenden Schüler mit dem historischen Buddha verbindet und der nächste ist der indische Siddha Hum(chen)kara, der ihn im tantrischen Umfeld des mittelalterlichen Indiens ansiedelt. Es macht nichts aus, dass eine Kluft von mehr als einem Jahrtausend dazwischen ist. Sein früheres Leben in Tibet während des 8. Jahrhunderts, das entscheidend für seine Fähigkeit ist, Schatztexte zu offenbaren, wird als der Übersetzer Khye’u-chung aus dem Drog-Klan gerechnet, wodurch er als ein unmittelbarer Schüler von Padmasambhava aufstellt wird. Anstatt eine lineare Reihenfolge zu betonen, springen die früheren Leben eines Tertöns üblicherweise durch die Jahrhunderte mit einem Fokus darauf, ihn oder sie mit einflussreichen Zeiten oder Orten in der Geschichte des Buddhismus und seiner Übertragung nach Tibet zu verbinden. Zusätzlich zählen Tertöns oftmals auch frühere Tertöns zu ihren vergangenen Leben. In dieser Manier wird Dudjom Lingpa als der dritte Dudul, eine Emanation des Tertöns Dudul Dorje aus dem 17. Jahrhundert und eine weniger bekannte Figur Dudul Rolpa Tsal angesehen.
Drittens und vielleicht am interessantesten findet man in der Dudjom-Linie Reinkarnationsschemata, die in der Familie gegliedert sind. Dudjom Lingpa spannt eine Linie von drei Emanationen, von denen die berühmteste Dudjom Rinpoche Jigdral Yeshe Dorje (1904 – 1988) war, der Tibet in den 1950ern verließ und das Oberhaupt der Nyingma-Linie im Exil wurde. Beachtenswert ist, dass die anderen zwei Emanationen von Dudjom Lingpa seine Enkel waren, Dzongter Künzang Nyima (1904 – 1958) und Sönam Detsen (1910 – 1958), beide verblieben in Golog und wurden aus eigener Kraft Tertöns. Letzterer arbeitete als Verwalter von Dudjom Lingpas Klostersitz Da Tshang Kalzang Gön. In Künzang Nyima und Sönam Detsen kann man alle drei Vorgänge der Übertragung zusammenwirken sehen: Familiennachfolge, Reinkarnationsschemas und die Offenbarung von Schätzen.
Neben den Tertöns in der Familie wurden alle Nachfolger Dudjom Lingpas als wiedergeborene Lamas anerkannt. Es ist für die Kinder eines Nyingma-Meisters nicht ungewöhnlich, als Emanationen von herausragenden religiösen Figuren aus früheren Generationen identifiziert zu werden. Dudjom Lingpas Söhne wurden als Wiedergeburten von nicht geringeren Figuren als Do Khyentse Yeshe Dorje und Patrul Rinpoche Orgyan Jigme Chökyi Wangpo anerkannt. Während die männlichen Erben der Nyingma-Meister in den regionalen Klöstern möglicherweise hochrangige Lamas wurden, wurden die weiblichen Erben manchmal als Emanationen von Yeshe Tsogyal mit keinem damit verbundenen Klostersitz identifiziert. Viel ungewöhnlicher für Golog und das Umland war, dass die weibliche Tertön Khadro Dewa’i Dorje vorrangig nachfolgende für zumindest eine der Dudjom Lingpa Urenkel Lha Cham Chökyi Drölma unterstützte, sowie für die weibliche Tertön Khadro Tare Lhamo (1938 – 2002), die selbst die Tochter eines Tertön in der Region war.
Dieser Artikel wurde ursprünglich von Prof. Holly Gayley im Januar 2010 verfasst und auf TBRC veröffentlicht. Der Originalartikel kann hier auf TBRC nachgelesen werden.