WILLST DU DEN CHARAKTER EINES MENSCHEN ERKENNEN, SO GIB IHM MACHT
(Abraham Lincoln)
Wieder einmal war der Stammtisch voll. So, wie an jedem Samstagabend, an dem sich die sechs Freunde, die sich bereits seit der Schulzeit kannten, in ihrer Dorfkneipe trafen, um bei einigen Gläsern Bier und ebenso vielen Schnäpsen über die vergangene Woche, über die hiesigen Frauen oder über die längst vergangenen Zeiten zu reden.
Ein zur Tradition gewordenes Treffen, dass sich stets gleich abspielte. Bei dem Hans, der Traktorist wie immer ein Thema in die Runde warf, über das Klaus, Jochen und Gerd, die als Melker in der LPG arbeiteten, stundenlang diskutierten, während Peter der Dorfpolizist lächelnd und meistens schweigend zuhörte und Achim, der Traktorenschlosser wie jedes Mal erfolglos versuchte, bei Uschi, der hübschen Kellnerin zu landen.
Doch obwohl dieses Treffen genau so begonnen hatte, wie all die anderen davor, sollte es doch ein anderes Ende nehmen. Ein Ende, das nicht nur darin bestand, dass sich die Freunde für immer trennten, sondern auch darin, dass einer von ihnen für eine lange Zeit ins Gefängnis musste.
Schuld allein war das Thema, dass man an diesem Abend auf den Tisch gebracht hatte. Ein Thema, in dem es um Peter und seine berufliche Laufbahn ging. Er war der einzige, der es geschafft hatte, aus dem ewigen Kreislauf dieses Dorfes auszubrechen. Der einzige, der nicht, wie seine Freunde in der LPG gelandet war, sondern der nach seiner Lehre zur Polizeischule ging, um, nachdem er diese erfolgreich beendet hatte, als ABV, als Abschnittsbevollmächtigter der Deutschen Volkspolizei in sein Dorf zurück zu kehren.
Den ganzen Abend sprach man darüber. Diskutierte über das Für und Wider. Über die Vorteile, die dieser Beruf mit sich brachte und über deren Nachteile, die man als ABV in Kauf nehmen musste. Ein Diskussion, die, zumindest bis dahin völlig harmlos war. Die genauso verlief, wie jede andere vor ihr. Doch das sollte sich schon sehr bald ändern.
Als die sechs Freunde den Abend beendeten und wankend auf die Straße gingen. Dort, wo sie auf ihrem gemeinsamen Heimweg weiter diskutierten. Und wo Gerd grinsend an Peter heran trat und ihm mit dem gelallten Satz „Du bist doch nur Polizist geworden, weil Du so ein hübsches Hütchen haben wolltest.“ die Dienstmütze vom Kopf schnippte.
Eine kleiner Spaß, den Peter, anders als seinen Freunden, die sich vor lauter Lachen die Bäuche hielten, nicht besonders witzig fand. Im Gegenteil. Beleidigt und in seiner Ehre als Polizist verletzt, sah er Gerd mit einem verächtlichen Blick an, hob seine Mütze auf und ging wortlos davon.
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Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, welche Folgen dieser Scherz noch haben sollte. Dass einer von ihnen einen langjährigen Freund für einen dummen, von Alkohol geprägten Spaß ans Messer liefern würde. Doch sie sollten es, und das galt besonders für Gerd sehr bald erfahren. Als am nächsten Morgen die Staatssicherheit vor seiner Tür stand und ihn ohne eine Erklärung verhaftete.
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Gerd wurde damals wegen des völlig aus der Luft gegriffenen Tatbestandes der Herabwürdigung und des Angriffes auf einen Volkspolizisten zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt.
Er wurde zum Opfer eines Freundes, der sich in seiner zweifelhaften Ehre verletzt fühlte und sich nun, auf die übelste Art und Weise an ihm rächte. Eine Rache, die auch vor einer Lüge nicht halt machte.
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Gerd verbrachte damals den Großteil seiner Haftzeit im Gefängnis Bautzen, wo er einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland stelle. Ein Antrag, der ihn später, kurz vor seiner Entlassung, zu einen der wenigen Glücklichen machte, die die DDR aus einem Strafvollzug heraus verlassen durften.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie wurde mir von einem guten Freund erzählt.
Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.