DIE MODELLIERUNG DES MENSCHEN. ÜBER HAUGS KRITIK DER WARENÄSTHETIK

NICHT HAUG

Nicht Haug

von Mara Recklies

Kaum ein Buch wird so unermüdlich verlacht, gelobt, für veraltet und erneut für brandaktuell erklärt, wie die Kritik der Warenästhetik von Wolfgang Fritz Haug. Und kaum ein Buch wird so häufig missverstanden, fehlinterpretiert und sorgt aus diesem Grund für so viel Unmut, wie diese vor mittlerweile 42 Jahren erschienene, in drei Teile gegliederte Schrift. Doch worum geht es darin überhaupt?

Eine psychoanalytische Untersuchung der Werbung

Die Kritik der Warenästhetik war das Ergebnis mehrerer kleinerer Aufsätze und eines Vortrags von Haug, die sich irgendwann zu einem Werk verdichteten, welches das große Thema seines Denkens werden sollte. Kaum erwähnt findet man, dass die Grundlagen dieses Werkes keinesfalls marxistisch, sondern psychoanalytisch motiviert waren. Haug hatte sich in jungen Jahren, bereits als Student, mit Werbung auseinandergesetzt. Sein Anliegen war es, die Wirkungsweise von Werbung zu begreifen und einer Kritik zu unterziehen. Er ging bei dieser Sozioanalyse so vor, dass er die Entwicklung des Tauschgeschäfts von seinen Anfängen bis zur Gegenwart untersuchte, um dabei „die Erscheinung der Warenästhetik ökonomisch abzuleiten und im Systemzusammenhang zu entwickeln und darzustellen.“1

Er widmete sich dafür exemplarisch einzelnen Phänomenen aus dem Komplex der Warenästhetik um aufzuzeigen, dass die Struktur der Tauschgesellschaft „rational und irrational zugleich“2 ist. Rational, weil sie der Logik des Kapitals folgt, irrational, weil sie den Menschen hierfür nach ihren Möglichkeiten, zu ihrer Förderung modelliert und er sich – nicht gerade zu seinem Besten – mehr oder minder dem freiwillig unterwirft.

Warenästhetik Design

Zur Darstellung dieser gesellschaftlichen Vorgänge entwickelte Haug mehrere terminologische Neuprägungen, unter denen „Technokratie der Sinnlichkeit“, „ästhetisches Gebrauchswertversprechen“ und „ästhetische Innovation“ zu den relevanten Begriffen gehören. Der populärste in dieser Untersuchung geprägte Begriff ist aber sicherlich „Warenästhetik“. Er bezeichnet „einen aus der Warenform der Dinge entsprungenen, vom Tauschwert her funktionell bestimmten Komplex dinglicher Erscheinungen und davon bedingter sinnlicher Subjekt-Objekt-Beziehungen“3 bezeichnet.

Um diese zunächst kryptisch anmutende Definition zu verstehen ist es wichtig zu begreifen, dass Haug den Begriff „Ästhetik“ im traditionellen Sinne einer cognition sensitiva nutzt. „Ästhetik“ meint hier nicht Schönheit, „Warenästhetik“ ist absolut nicht die Schönheit der Ware oder gar das Design! Genau dieses Missverständnis ist es, welches in der Rezeption der Kritik der Warenästhetik immer wieder für Verwirrung sorgte. Wenn man Warenästhetik mit Formgebung und Gestaltung von Ware verwechselt kann man die gesamte Kritik der Warenästhetik nur missverstehen.4

Ein Versprechen, dass „eher hungrig, als satt“ macht

Also: Haugs Kritik zielt keinesfalls auf Gebrauchs- oder Tauschwert der Ware (und damit auf die Formgebung der Produkte oder Ware an sich), sondern auf das, was er als „Gebrauchswertversprechen“5 bezeichnet. Damit meint er das dem Gebrauch vorauseilende Versprechen der Warenästhetik, welches „eher hungrig als satt“6 mache und sich im Verkaufsakt, dem Kaufhaus, der Verpackung oder Werbung dem potentiellen Käufer verführerisch präsentiere. Heutzutage könnte man vielleicht unter Warenästhetik Marketing in all seinen Facetten verstehen.

Haug versuchte das Gebrauchswertversprechen als eine dem Kapitalismus entspringende und ihm zugehörige Struktur zu entlarven, dass veborgene Sehnsüchte im potentiellen Käufer anspricht. Es hake ein, „wo immer es zwischen den Polen von Geldverdienen, Sexualität und Sicherheit eine Begierde oder eine Angst zu schüren gilt.“7 Diese Triebe „strukturieren Wahrnehmung, Empfindung und Bewertung und modellieren Sprache, Kleidung, Selbstverständnis ebenso wie Haltung, ja sogar den Leib, vor allem aber das Verhältnis von ihm.“8

Das Problematische ist, dass die Menschen ihre Existenz in ihrer derart geprägten und gesteuerten Gesellschaft als „unpolitischen Naturzustand“9 erfahren. Für Haug zeigt das, dass sich die Warenästhetik auf dem schmalen Grad zwischen Betrug und Selbstbetrug der Betrogenen bewegt.

Die Ware beginnt den Menschen zu entgleiten, das „Machwerk“ des Menschen schwingt sich zur nahezu ungesteuerten Herrschaft über ihn auf und gewinnt Macht, was die Einbindung des Kunst- und Kulturbetriebes in die kapitalistischen Zwecke der Warenästhetik noch zusätzlich verstärkt. Haug sah „Triebkräfte entfesselt“10, deren kapitalistische Steuerung ihm, gerade aus seiner marxistischen Perspektive, problematisch erschien.

Kritik an der Kritik

Nicht zuletzt war es diese marxistische Perspektive, die kritisiert wurde. Nahrung fanden die Angriffe zusätzlich in irritierenden Untersuchungen und Bemerkungen zur Warenästhetik der DDR und im Sozialismus.

Einige Jahre später räumte Haug, nachdem sein Werk teilweise euphorisch, vom Fachpublikum aber auch mit großer Skepsis aufgenommen wurde, „Unschärfe“ in seinen Texten ein.11 Es folgten weitere Untersuchungen und Schriften, in denen er, nicht ohne Selbstkritik, den Versuch unternahm, seiner Theorie der Warenästhetik Kontur und Schärfe zu verleihen, so etwa in seiner Systematischen Einführung in die Warenästhetik von 1980, in der er das „Erkenntnisobjekt ‘Warenästhetik’“12 genauer bestimmte und seine Methode noch einmal erläuterte.

Im Jahr 2009 erschien Haugs Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, in dem er seine Kritik der Warenästhetik an zeitgenössischen Unternehmen wie facebook, google oder der Modekette Hennes&Mauritz abarbeitet. Dieser Aktualisierung hatte seine Warenästhetik bedurft, um ihre Aktualität unter Beweis zu stellen und nicht „antiquiert“ zu wirken, wie etwa Wolfgang Welsch spitz zu ihr bemerkt hatte. Haug selbst erinnerte daran, dass das erste Buch im Geiste der 68er Generation erschienen sei, zu Zeiten des Kalten Krieges und des Kriegs in Vietnam, der Niederwalzung des tschechoslowakischen Versuchs, Staatssozialismus und Demokratie zu versöhnen. Die exemplarisch beschriebenen Phänomene der Warenwelt entstammten dem „American way of life des fordistischen Massenkonsums“13, den „goldenen Jahren“ des Fordismus im westlichen Nachkriegsdeutschland und seien daher teilweise überholt. Die Aktualisierung der Kritik der Warenästhetik sei also notwendig geworden, da die „’Technokratie der Sinnlichkeit’ auf eine neue Grundlage gestellt“14 worden sei. Jedoch habe sich die Warenästhetik nicht geändert, sie diene „unverändert der Realisation des Warenkapitals“15.

Warenästhetik im Zeitalter der Globalisierung

„Die parasitäre Macht der Warenästhetik“16 verbreitet sich inzwischen aber transnational, die weite Teile der Welt betreffende Armut wird unter diesen Bedingungen zur „Gegenwart einer Abwesenheit“, denn „lange vor dem Wasseranschluss kommt der TV Anschluss.“17 So produziert das Gebrauchswertversprechen durch die Warenästhetik die Illusion eines Paradieses, was unterprivilegierte Menschen veranlasst, in die vermeintlich paradiesischen, kapitalistischen Großstädte und Länder auszuwandern. Die Werbeindustrie ist zur cultural authority geworden.

Fraglos ist das Gebrauchswertversprechen nach Haug eines, das keine Erfüllung findet, sondern die Menschen immer bedürftig erhält. Diese Modellierung des Menschen als bedürftiges Wesen, von Haug im ersten Buch von 1971 noch polemisch als „Züchtung“ bezeichnet, wurde von ihm im Buch über den High-Tech-Kapitalismus ins Englische übertragen und nun von ihm als „lifestyle“ bezeichnet. Die Prinzipien der Warenästhetik bleiben trotz solcher terminologischen Neuerungen und aktualisierten Beispielen dieselben.

Abstumpfung des „kritischen Sinns“

Haug betonte 1971 in der Kritik der Warenästhetik, sie richte sich nicht „gegen die Verschönerung bestimmter Dinge [...], sondern sie zeigt, wie eine losgelassene ökonomische Funktion des Kapitalismus mit der Macht einer Naturkatastrophe durch die sinnliche Welt fegt und alles das, was sich ihr nicht fügt, wegfegt […].“18 In der Zeit des beginnenden neuen Jahrtausends zeigt der Kapitalismus und mit ihm die Warenästhetik das vertraute Antlitz, wenn auch mit neuer Maske. So ist der Flaneur Walter Benjamins nun der modellierte Käufer in gigantischen Shoppingmalls, Einkaufen ist eine Freizeitbeschäftigung.

„Wo der Kapitalismus hoch entwickelt ist, stumpfen die Sinne und der kritische Sinn dafür im selben Maß ab.“19 – dies ist eine der zentralen Thesen der aktualisierten Kritik der Warenästhetik.

Haug schreibt, es scheine den Menschen der Kapitalismus alternativlos geworden zu sein, nachdem der Sozialismus zusammenbrach, , „als habe die Kritik davon gezehrt, dass es eine Alternative zum oder auch im Kapitalismus gab. Der global und alternativlos gewordene Kapitalismus präsentiert sich als eine Welt, über die man nichts mehr sagen kann, weil es in ihr kein Außen, sondern nur noch Innen gibt.“20

Während die Kritik der Warenästhetik 1971 noch deutliche Empörung über ihren Gegenstand zeigte, meint man in Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus den Gegenstand der Empörung darin auszumachen, dass „die neoliberal grundierte ‘Spaßgesellschaft’ des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts“ die „Gesellschaftskritiken an den Rand“ drängt. „Im Unterschied zu der alten […] Medienkritik’ wird jetzt ‘Sinndesign’ durch Werbung begrüßt“21 bilanziert Haug. Die kapitalistische Propaganda feiere ihre Triumphe, „wenn lohnabhängige Massen sie […] für das Natürliche halten[...].“

Abschließend bleibt die Frage, welche Rolle bei Haug das Design im Zusammenhang mit der Warenästhetik spielt. In einem Interview für das IDZ Berlin formulierte er eine interessante Metapher für diese ambivalente Rolle: “In kapitalistischer Umwelt kommt dem Design eine Funktion zu, die sich mit der Funktion des Roten Kreuzes im Krieg vergleichen lässt. Es pflegt wenige — niemals die schlimmsten — Wunden, die der Kapitalismus schlägt.”23So wie das rote Kreuz die Soldaten pflegt und damit indirekt einen Beitrag zum Fortbestehen des Krieges leistet, arbeitet das Design in die Hände kapitalistischer Interessen. Haug möchte damit betonen, dass es niemals unpolitisch oder politisch unschuldig ist. “Was die Menschen brauchen,verbrauchen und benützen”, erklärte er, “was sie bewohnen und worin sie sich bewegen und ihre Bedürfnisse befriedigen; wie die Menschen ihr Leben organisieren, sich einrichten, kleiden, schön machen, andere schön finden und deshalb begehren: die Gesamtheit der Dinge, der Gelände der Menschen wird von kapitalistischen Interessen beherrscht, ausgebeutet, gestaltet.”24

Für Haug ist entscheidend, in wessen Dienst Design steht, wofür, mit welchen Zielen ein Design entworfen wird. Geht es um Profitmaximierung um jeden Preis? Ist Design nicht weiter, als ein Verkaufsargument? Wird Design genutzt, um bei einem Cremedöschen mehr Inhalt zu suggerieren? Um den Käufer zu einem Kauf zu verführen, den er nicht tätigen wollte? Um mit cleverem Packaging Design über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass die Lebensmittelverpackungen nur halb gefüllt ist? Wenn die Antwort auf diese Fragen “ja” lautet, so handelt es sich um Design in einer Funktion, die Haug kritisiert.

Doch kann man diesen Problemkomplex auch von der anderen Seite betrachten: Positiv formuliert ließe sich die aus der Warenästhetik resultierende Aufgabe für Designer folgend zusammenfassen: Der Designer sollte sich den Menschen, für die er gestaltet, verpflichtet fühlen, anstatt den Herstellern und dem Kapital. Design ist eine Macht, die jeglichem Interesse dienen kann. Es ist die Aufgabe jedes Designers, sich dieser Einsicht zu stellen und Position zu beziehen.

Sicherlich, die schier unausweichliche Zerrissenheit des Designs zwischen ethischem Anspruch und radikaler Wirtschaftlichkeit ist heutzutage kein Geheimnis mehr. Doch dass sich ein Bewusstsein für diese Gratwanderung entwickelte, ist nicht zuletzt Haugs Kritik der Warenästhetik zu verdanken. Unter diesem Gesichtspunkt ist sie noch immer eine empfehlenswerte, wenn auch nicht ganz einfach Lektüre für Menschen, die sich mit Design befassen, egal ob auf praktischer oder theoretischer Ebene.

Literaturangaben:

Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a.M. (1971) 1980
Haug, Wolfgang Fritz: Warenästhetik und kapitalistische Massenkultur (I): „Werbung“ und „Konsum“. Systematische Einführung. Berlin, 1980
Haug, Wolfgang Fritz: Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus. Frankfurt a.M. 2009
Haug, Frigga: Gebrauchswert. In: Haug, Wolfgang Fritz (Hg): Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hamburg, 1999 S. 1259-1289
Koivisto, Juha: Gebrauchswerversprechen. In: Haug, Wolfgang Fritz (Hg): Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hamburg, 1999 S. 1289-1298

1Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 11

2Ebd. S. 43

3 Ebd. S. 10

4 Vgl. hierzu Rexroth, Tillmann:

Warenästhetik – Produkte und Produzenten. Zur Kritik einer Theorie W.F. Haugs

5 Vgl. hierzu Koivisto, Juha: Gebrauchswertversprechen

In : Haug, Wolgang Fritz (Hg.): Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus,

S.1289-1298

6 Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 67

7 Ebd. S. 125

8 Ebd. S. 125

9 Ebd. S. 128

10 Ebd. S. 11

11 Vgl. Haug: Aus dem Nachwort d. schwedischen Ausgabe.

In ders.: Kritik der Warenästhetik, S.176-184

12 Haug: Warenästhetik und kapitalistische Massenkultur (I):

„Werbung“ und „Konsum“. Systematische Einführung in die Warenästhetik

13 Haug: Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, S. 213

14 Ebd. S. 216

15 Ebd. S. 220

16 Ebd. S. 218

17 Ebd. S. 238

18 Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 141

19 Haug: Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, S. 216

20 Haug: Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, S. 318

21 Ebd. S. 323

22 Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 137

23 Haug: Kritik der Warenästhetik,

Anhang zur ersten Auflage der Kritik der Warenästhetik (1971)

oder unter www.wolfgangfritzhaug.inkrit.de

24 Haug: Kritik der Warenästhetik,

Anhang zur ersten Auflage der Kritik der Warenästhetik (1971)

oder unter www.wolfgangfritzhaug.inkrit.de

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