Ich stelle mir vor, dass vor etwas mehr als achtzig Jahren, genau an derselben Stelle, an der wir jeden Morgen quatschen, auch Leute herumstanden. Damals vermutlich noch auf einem Acker. Der Stadtrand lag ja noch weiter östlich. Leute, die vielleicht eine Pause vom Kartoffelernten machten und einen Kaffee schlürften. Und die schwatzten. Die Präsidialkabinette führen uns in den Ruin, sagte vielleicht einer aus der Runde in die Runde. Er führte aus, dass die Journalisten diese spezielle Variante der Diktatur nicht kritisieren, sondern sie sprachlich verklären und stützen, indem sie die Notverordnungen zu einer Vernunftsangelegenheit küren. Wahrscheinlich hörten alle zu, sagten aber wenig bis nichts darauf. Nur einer sagte, denn einer ist immer dabei, der sowas sagt: Was soll man denn machen, die Not ist groß und irgendwie muss man schließlich regiert werden. Wenn es keine starke Regierung gäbe, die die Arbeitslosen an die Kandare nimmt, dann wird alles bloß noch schlimmer. Und überhaupt, der Kaffee schmeckt beschissen. Hey Robert, haste deinen Socken als Filter verwendet?
Wahrscheinlich war es nie anders. Der miese Kaffee in der eigenen Tasse ist den Menschen stets wichtiger gewesen, als der schleichende Prozess der Verschlechterung eines Gemeinwesens. Er macht sie gesprächiger als der Niedergang. Klar, den Kaffee können sie auch schmecken. Und sie können demnach feststellen, dass er ihnen nicht schmeckt. Und falls der Kaffee mal alle ist, dann kann man in die Tasse starren und den Mangel konkret benennen. Aber eine Demokratie, die langsam aber sicher ihre vormaligen Ideale verabschiedet und immer stärker marktverortet wird, empfindet man nicht so sehr als Mangel. Man erfasst einen solchen Prozess ja kaum sinnlich. Das heißt, man nimmt ihn schon wahr, muss dann aber eins und eins zusammenzählen.
Zwar kann man auch heute recht deutlich erkennen, wie die politischen und publizistischen Eliten leichtfertig mit der Demokratie umgehen, sie sprachlich in neue Gefilde führen und letztlich veräußern. Aber Kritik im Alltagsleben der Menschen vernimmt man darüber selten. Sie sind ein bisschen politikerverdrossen, mögen die Bonzen aus Wirtschaft und Politik nicht, aber ansonsten scheint sich niemand wirklich aufzuregen.
Und ich, ich sitze wie einst Klemperer hier rum und staune über die alltagssprachlichen Auswüchse, die das demokratische Verständnis neu einrahmen. Ich bin es inzwischen müde, immer wieder von postdemokratischen Zuständen sprechen zu müssen. Aber genau so ist es eben. Wo bleibt denn der Verfassungspatriotismus, der laut Vorsicht! schreibt, wenn sie mal wieder die Koalitionsrunde zum Gesetzgeber krönen? Wenn es um politische Prozesse, Willensbildung und Verfahrenswege geht, da schleicht sich eine Laxheit in die Sprache ein, hinter der man ein gutes Pfund Verachtung für dieses politische System wittern muss.
Ein System, das bekanntlich vieles erschwert, wie manche Aasgeier aus Politik und Wirtschaft am Rande von Stuttgart 21 schon feststellten. Demokratie macht nämlich handlungsunfähig, wenn man sie zu ernst nimmt, haben sie uns erklärt. Mitsprache lähmt und so. Die Nazis nannten ähnliches verächtlich Plauderbude - dem ewigen Debattieren wollten sie ein Ende bereiten. Man müsse handeln, etwas tun, tätig werden. Nicht nur immer reden, argumentieren und Kompromisse finden. Die Typen, die heute herumheulen, weil Großprojekte in Deutschland so schwer umsetzbar sind, weil ja jeder mitreden möchte, klingen ganz so wie diese Nazis von einst. Nur sagen darf man es ihnen nicht, sonst werden sie sauer.
Erschreckend ist seit Jahren, wie die von der Troika verabschiedete Sparpolitik sprachlich an den Mann und die Frau gebracht wird. Man spricht von Sanierung, von Sparpotenzial und davon, dass der Beamtenapparat nun schlanker geworden sei. Das sind Floskeln, die mir schon in manchem Alltagsgespräch begegnet sind. Sie färben das Weltbild der Menschen. Hinter all diesen Floskeln stecken Methoden der Entdemokratisierung, die in den Ländern, die man zu sanieren vorgibt, drastische Formen angenommen haben. Die Entmachtung eines vom Volk gewählten Parlaments hat aber mit Sanierung nichts zu tun. Sprache, die verkappt ...
Im Zuge der Koalitionsverhandlungen fanden sich viele kleine Sentenzen, die zum Nachdenken anregten. Eben die Geschichte, dass man die Koalitionsrunde zum Gesetzgeber erklärte. Oder aber, dass eine Sendung den Fahrplan der nächsten Wochen zeichnete und für Mitte Dezember die "Merkel-Wahl" festschrieb. Oder dass man den Mitgliederentscheid der Sozialdemokraten einfach ignorierte und schrieb, dass die Große Koaliton komme, daran gäbe es keinen Zweifel mehr. Und dann gibt es noch so viele andere Sprachgezüchte, die an der republikanischen Ausrichtung derer, die die Öffentlichkeit mit Meinung versorgen, zweifeln lassen. Ich erinnere mich, dass ich über die Schlagzeile "Manning schuldig!" stolperte. Dass er für schuldig befunden wurde, wäre richtiger gewesen. Wenn man schreibt, dass er (oder ein anderer Angeklagter) schuldig sei, macht sich der Journalismus gleich noch zur moralischen oder gar richterlichen Instanz. Speziell in einem Fall wie dem des Bradley Manning, der eigentlich im besten republikanischen Sinne dafür sorgte, dass diverse Fakten die Sache der Öffentlichkeit (also zur res publica) wurden, ist das gefährlich.
Ich sehe einige meiner Kollegen vor mir, wie sie abwinken und sagen: Ach komm, du übertreibst. Sind ja nur Worte. Stimmt. Und dann denke ich an Victor Klemperer, der die sprachlichen Abwandlungen (auch schon im Vorfeld Hitlers) notierte. Es gab Wendungen, die plötzlich Einzug fanden, rohe Floskeln, die den Weg wiesen und einen auch sprachlich klar antidemokratischen Kurs. Dabei liegt mir fern anzunehmen, der Faschismus käme bald wieder zurück. Damals warteten die Nazis auf ihre volle Entfaltung. Uns erwartet das demokratische Kleidchen über den häßlichen Körper der Wirtschaftsdiktatur. Und wenn ich es mir recht überlege, was ist denn schon der große Unterschied zwischen einem jener Präsidialkabinette von damals und der marktkonformen Demokratie, auf die man uns sprachlich immer vehementer vorbereitet?
Nein, es sehen nicht alle zu, wie eine Demokratie der Teilhabe, die den mutigen Bürger nicht scheut, sondern befürwortet, langsam in eine andere Form gegossen wird. Aber mir scheint, es hören alle viel zu passiv zu. Aufgeregt wird sich über allerlei Unsinn. Teils über Geschichten aus dem Boulevard, über Personalien am Rande der Machtzentren oder über Muckefuck. Wenn man die Entdemokratisierung und das defizitäre Gequatsche am Rande dieses Prozesses nur erschmecken, bloß in die eigene Tasse gießen könnte: Es wäre plötzlich das Thema jeder Runde. Bäh, diese Demokratie schmeckt ja wie Wasserbrühe. Kann man ja nicht trinken.
Ich sitze hier und schlürfe selbst üblen Kaffee. Ich mach' mir mal nen richtigen, bevor ich mir weiter Gedanken über den Niedergang mache. Man sollte die Postdemokratie wenigstens dekadent mit einem Schluck ordentlichen Kaffee hinunterspülen. Der Geschmack vollmundiger Bohnen macht jeden Untergang erträglicher.
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