Die mentale Volkspartei

oder Eine im Alltag angebotsorientierte Partei, in die man in Feststunden alles Schöne, Gute, Wahre hineininterpretieren darf.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands feierte dieses Wochenende im ganz großen Stil ihr 150-jähriges Bestehen. Über 150.000 Menschen sollen es laut Medienangaben in Berlin gewesen sein. Nena, Roland Kaiser, Fools Garden und Konstantin Wecker traten auf. Ein fröhlicher Rummelplatz. Die SPD als Event für den Nachmittag. Und natürlich wurde der Geist ihrer großen Geschichte beschworen, die heutige SPD in die Rolle der Bebel-Socialdemokratie gerückt. Was für ein Bohai!

Die mentale VolksparteiUnd alles wurde wie aus einem Guss hingestellt. Die SPD. Betonung auf Die. Die eine SPD. Das Wir entscheidet, plakatiert sie dieser Tage außerdem. Das gehört mittlerweile zum Mythos dieser anderthalb Jahrhunderte alten Dame. Sie suggeriert, dass es keine andere Sozialdemokratie als die jetztige geben kann. Zugegen waren aber dennoch so gegensätzliche Leute wie Steinmeier und Wecker. Agendisten und Alt-Sozis, Leute die man als besonders realistisch einstuft, weil sie das Primat der Wirtschaft stützen und solche, die glauben, die Politik sollte mehr sein, als die schüchterne Absteckerin von Rahmenbedingungen.
Die eine SPD gibt es vielleicht erst wieder seitdem Lafontaine seine Ämter aufgegeben hat. Bis dorthin existierte noch verschiedene Vorstellungen in ihrer Chefetage. Ihre Geschichte nach 1998 hätte durchaus anders verlaufen können. Wenn dieser Tage Grass Lafontaine für seine Rücktritte kritisiert, dann kann man das so sehen und bewerten, wie es der linke oder linksliberale Groupstream tut - oder aber man könnte es auch so deuten: Vielleicht nahm Grass es ja als Verrat an der Sache wahr, dass da diese personalisierte Hoffnung innerhalb einer sich neu orientierenden Sozialdemokratie hinwarf, um somit den Agendisten freien Raum zu lassen. Lafontaine hätte dann insofern nicht die Öffentlichkeit, nicht die Wähler und nicht seine Partei verraten, sondern die Idee aufgegeben, er könne innerhalb der Schröder-SPD ein Korrektiv sein, das die Neoliberalisierung verhindert. Diese Enttäuschung könnte ich verstehen. Alle anderen, die sich mit "Verrat am Wählerauftrag" begründen, kann man nur für verkitschte Versuche zur Diffamierung dieses Mannes anschauen.
Sei es, wie es sei: Die SPD gibt es heute wahrscheinlich tatsächlich einheitlicher als noch 1998. Geschlossenheit zeigen! Die Öffentlichkeit nimmt diese Parole als gute Nachricht war. Mit Geschlossenheit assoziiert man Positives. Im Falle dieser SPD hat es sich jedoch als tragische Entwicklung erwiesen. Wir haben es mit einer geschlossenen Partei zu tun, die sich stolz in ihrer Geschichte herumkugelt, den einstigen Kampf gegen Machteliten, gegen Ungerechtigkeit und den repressiven Staat stilisiert und die gleichermaßen alle Werte, die diese Geschichte je ausmachten, mit Füßen zertrampelt.
Ich wurde am Samstag gefragt, was denn Konstantin Wecker ausgerechnet bei der Hartz IV-Partei verloren hätte. Warum singt er denn dort? Ich habe überlegt und nach einer Weile geantwortet: Weil er sich unter SPD etwas anderes vorstellt, als es Steinmeier tut. Wecker und Steinmeier teilen den Respekt vor der Parteigeschichte. Das ist die Gemeinsamkeit. Der Unterschied: Wecker hält die "Geistesgeschichte der Partei" vermutlich für etwas, was fortgeschrieben werden sollte. Steinmeier hat mit ihr abgeschlossen, für ihn ist sie eine schöne Erzählung für besinnliche Stunden. Für den einen lebt die Geschichte noch und gehört wieder als Ideal fixiert; für den anderen ist sie Romantik, das Alte Testament einer Partei, die an ihrem Neuen Testament strickt.
Das ist das Dilemma. Mit der SPD verbindet man so viele hoffnungsvolle Geschichten. Aber diese aktuelle SPD schreibt keine Geschichten der Hoffnung mehr. In der Tagespolitik gibt es die SPD mehr oder weniger. Aber als Phantasie nicht. In der Gegenwart vertritt sie das Wir der angebotsorientierten Ökonomie und Soziologie. Aber in Stunden des Rückblickes schwelgt diese Partei in linker Weltsicht. In den Sachfragen der Gegenwart ist sie straff auf Betriebswirtschaft gepolt. Als Begriff ist die Sozialdemokratie aber Plastilin, kann sie plötzlich Bilder von aufrechten Gewerkschaftlern und demokratischen Sozialismus zulassen, ohne dass es diese Dinge auch in ihrer sozialdemokratischen Wirklichkeit gibt.
Die sich auf ihr Wir zurückziehende SPD betätigt sich im Alltag als die Gruppe der mutigen Agenda 2010-Reformer. Für das Gemüt ist sie die Partei des "Mehr Demokratie wagen". Nur deshalb bringt sie an Festtagen Seeheimer und Alt-Sozis zusammen, New Labour-Leute mit denen, die für soziale Gerechtigkeit einstehen. In den Köpfen der Menschen gibt es die SPD nicht. Jeder hat so seine eigene SPD, seine eigenen Vorstellungen und Erfahrungen. Sie ist eine mentale Volkspartei, die aber in der Physis des Alltags nicht viele Ansichten vereint, sondern lediglich viele Ansichten ins alternativlose Konzept des Neoliberalismus münden läßt, um sie dort "im Sachzwang" zu ersticken.

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