Die Mauer – Betonköpfe graben sich ein

Als ich ein Schulkind war, fuhren wir im Sommer zum Kirschen pflücken zu Bekannten meiner Eltern nach Witzenhausen. Unterwegs gab es einige Stellen, von denen man die Grenze sehen konnte. Die Zonengrenze, wie unsere Eltern sagten.

Die Grenze zwischen BRD und DDR. Die deutsch-deutsche Grenze. Das war eine breite, hässlich zackige Narbe, die sich über bewaldetete Hügel, durch Wiesen und Felder zog. Sogar durch Dörfer. In regelmäßigen Abständen drohten Wachtürme über den Grenzanlagen. Diese Grenze war sehr viel mehr als ein Zaun aus Metall und Stacheldraht. Sie trennte nicht einfach den westlichen Teil Deutschlands vom östlichen Teil Deutschlands. Sie war die Demarkationslinie zwischen zwei Weltsystemen, die sich unversöhnlich gegenüberstanden, dem kapitalistischen Westen und dem realsozialistischen Osten. Ein Ort zum Gruseln. Quasi das Ende der Welt: Dort ging es nicht weiter. Da durfte man nicht hin. Die Grenze war gefährlich. Dort konnte man erschossen werden. Oder schlimmeres.

Wir hatten in der Schule gelernt, wieviel Mühe sich die im Osten mit ihrem komischen Zaun da gaben. Dass es ein ausgeklügeltes System von Hindernissen gab, das verhindern sollte, das die Leute aus dem Osten abhauen konnten. Sogar Selbstschussanlagen gab es, falls gerade mal keiner der bewaffneten Grenzer hinschaute. Trotzdem versuchten immer wieder Leute, über diese Grenze abzuhauen. Manchen gelang es, anderen nicht.

Mitunter hörten wir von spektakulären Flucht-Aktionen. Einmal waren zwei Familien mit einem selbstgebauten Heißluftballon über die Grenze geflogen. Andere gruben Tunnel, versteckten sich in extra dafür umgebauten Autos oder durchbrachen mit dem Lastwagen die Sperranlagen. Manche durchschwammen die Spree oder gar die Ostsee.

Was war da drüben in dem anderen Deutschland los, dass Menschen solche Gefahren auf sich nahmen, um da raus zu kommen? Andererseits sah es drüben augenscheinlich nicht anders aus als bei uns: Wiesen und Wälder, Dörfer und Felder. Im DDR-Fernsehen, das bei uns zu empfangen war, gab es Nachrichten und Kinderfilme, genau wie bei uns. Statt Gerhard Löwenthal im schwarzen ZDF-Magazin gab es dort den Schwarzen Kanal von Karl-Eduard von Schnitzler. Aber wir hatten in der Schule sowieso gelernt, dass man nicht alles glauben solle, was im Fernsehen gesendet wird, und dass vieles davon ohnehin übertrieben sei.

Voll die Systemkritik

Im Nachhinein finde ich es geradezu rührend, wie bemüht man damals in den 70er und 80er Jahren war, uns Medienkritik beizubringen. Ich hatte voll die kritischen Lehrer! Echte 68er, die uns durchaus aufklärten, in was für einem System wir leben. So richtig geholfen hat es aber nicht, wenn ich mich so umschaue. Heute hat man im Lehrplan vermutlich ohnehin keine Kapazität mehr für so etwas. Auch in meinem Jahrgang gab es welche, die in die Junge Union eintraten. Oder zu den Julis gingen.

Zurück zur Grenze. Vor 50 Jahren sie die mit dem Bau der Mauer richtig dicht gemacht.
Warum nun wollten aber so viele Menschen weg aus dem sozialistischen Arbeiter-Paradis? Eine Frage, die gestellt werden muss, und nicht einfach mit der irrationalen Freiheitsliebe der Ostdeutschen erklärt werden kann.

Es ist ja nicht so, dass das Leben im Osten keine Vorteile gehabt hätte: Einen sicheren Arbeitsplatz, also sicheres, wenn auch nicht unbedingt sehr hohes Einkommen. Günstige Mieten, billige Grundnahrungsmittel, überhaupt, alles, was man wirklich zum Leben brauchte, war billig. Dafür gab es weniger Luxusgüter, die dann auch noch vergleichsweise teuer waren. Keinen BMW oder Mercedes vor der Haustür, sondern jahrelanges Warten auf einen Trabant. Keine Fernreisen in die USA und nach Australien, nicht mal nach Westeuropa. Aber günstige Ferienreisen nach Osteuropa. Kostenlose Ausbildung, Studium auf Staatskosten, staatliches Gesundheitssystem.

Und doch: Tausende flohen unter Lebensgefahr in den vermeintlich goldenen Westen, Dutzende, Hunderte wurden dabei getötet. Waren die einfach zu blöd? Oder nur schlecht informiert? Vermutlich beides – aber das ist ihnen nicht anzulasten.

Denn es gibt da eine noch viel wichtigere Frage: Warum haben Menschen, die sich selbst als Sozialisten, als Kommunisten gar, bezeichneten, ihre Mitmenschen lieber umgebracht, als sie gehen zu lassen?

Überhaupt: Es muss irgendwas schon vollkommen schief gelaufen sein, wenn einer sozialistischen bzw. kommunistischen Regierung (obwohl: Regierung, schon wieder Problem) die Leute wegrennen. Denn im Sozialismus/Kommunismus soll es den Menschen doch besser gehen: Sie müssen nicht mehr für andere schuften, sondern sie arbeiten für sich selbst, sie sind Teil einer solidarischen Gemeinschaft, die sich um die Bedürfnisse aller Menschen kümmert, die daran teilhaben. Deshalb profitieren alle davon. So jedenfalls die Theorie. Wenn das bei den Leuten nicht ankommt, wenn das nicht erfahrbar ist, dann hilft es auch nicht, eine Mauer zu bauen, um die verbliebenen Leute zu ihrem Glück zu zwingen.

In der Berliner Zeitung gab es heute einen Artikel auf Seite 1, der überschrieben ist mit „Mauerbau war damals richtig“ . Darunter heißt es, vor allem Anhänger der Linkspartei würden diese Meinung teilen. Im eigentlichen Artikel wird dann relativiert, dass in einer aktuellen Forsa-Umfrage (im Auftrag der Berliner Zeitung) der Aussage „Teilen Sie die Meinung dass der Bau der Berliner Mauer aus damaliger Sicht nötig und gerechtfertigt war, um die Abwanderung von Fachkräften aus der DDR zu stoppen und die politische Lage in der DDR und damit in Deutschland insgesamt zu stabilisieren?“ 10 Prozent der Befragten „voll und ganz“ zustimmen würden, und weitere 25 Prozent wenigstens teilweise. 62 Prozent dagegen würden diese Aussage ablehnen.

Ich wette, diese 62 Prozent haben ganz andere Gründe als ich, diese Aussage abzulehnen. Ich finde erbärmlich, dass es überhaupt nötig war, eine Mauer zu errichten, um die Abwanderung von Fachkräften aus der DDR zu verhindern.

Warum war es dem Arbeiter- und Bauernstaat nicht möglich, den Leuten, die an seinem Aufbau mitwirken sollten, zu vermitteln, dass sich das für sie lohnen würde? Warum konnten sie den Leuten nicht erklären, dass sie im Kapitalismus immer hauptsächlich für den Reichtum anderer arbeiten würden, statt für die immer bessere Versorgung für sich selbst und ihrer Mitmenschen? Weil die realsozialistische Führung ganz offenbar komplett versagt hat. In der DDR und in der Sowjetunion.

Wem gehört ein Staatbürger?

Nur mittels einer hermetisch abgeriegelten Grenze konnten sie ihre Insassen daran hindern, abzuhauen. Und damit vermittelten sie auch nachdrücklich, als was sie die Leute auf ihrem Territorium betrachtet haben: Als Insassen, gewissermaßen als ihr Staatseigentum – darin unterschieden sie sich leider überhaupt nicht von anderen (kapitalistischen) Staaten, die ihre Staatsbürger ebenfalls als ihr Eigentum betrachten. Leute, von denen sie Steuern eintreiben und die sie in den Krieg schicken können. Nicht als freie, eigenständige Menschen, deren Interessen ein Staat zu dienen hat, bis er sich selbst überflüssig gemacht hat, weil die Interessen aller bedient werden.

Mag sein, dass es mit der DDR und dem Ostblock schneller vorbei gewesen wäre, wenn die Mauer nicht gebaut worden wäre. Das glaube ich aber nicht. Denn eine durchlässige Grenze hätte ja nicht nur die Bewegung von Ost nach West ermöglicht. Wer mit dem Kapitalismus nicht glücklich wurde, hätte in den Osten gehen können. Es hätte vielleicht ein paar Jahre gedauert, bis das bei den Leuten angekommen wäre, aber langfristig gedacht haben die Realsozialisten ja leider nicht. Trotz aller Fünfjahrespläne.

Mit mehr Mut und Offenheit wäre das sozialistische Experiment vielleicht noch immer nicht vorbei. Ein paar hellere Köpfe, als die, die dort am Werk waren, wären vielleicht darauf gekommen, dass es die Leute nicht überzeugt, wenn man sie mit Gewalt zu ihrem Glück zwingen will. Sondern dass man die besseren Argumente haben muss. Und wenn man nicht das Argument Geld hat, was leider noch immer das überzeugendste ist, dann muss man sich was noch besseres einfallen lassen. Und der gerade der Kommunismus hat viel bessere Argumente als Geld. Und sehr viel bessere als Zwang und Gewalt.

Die Sozialisten und Kommunisten im Ostblock hätten vielleicht einfach mal das Kapital nicht nur als marxistische Bibel vor sich hertragen und in den unmöglichsten Zusammenhängen zitieren, sondern einfach mal lesen müssen. Da steht tatsächlich alles drin! Dann hätten sie vielleicht auch kapiert, dass es selbstmörderisch ist, einerseits mit Preisvorgaben die Preisbildung auszuhebeln, so dass die Leute nur Spielgeld bekommen, mit dem sie einheimischen Krimskrams einkaufen dürfen, und gleichzeitig auf dem Weltmarkt nach Devisen zu geiern. Kann nur nach hinten losgehen, wie zu beobachten war.

Warum nicht gleich das Geld abschaffen und alle, die bereit sind, mitzumachen, mit allem, was sie dafür brauchen, zu versorgen? Der Ostblock war doch groß genug! Es gab so ziemlich alles – außer Devisen. Aber wozu braucht man die, wenn man gut ausgebildete, engagierte Leute hat, die alles bauen können?! Die ISS wird jetzt mit Sojuskapseln versorgt, die Sowjets waren die ersten im All, Sacharow hat die H-Bombe gebaut – was hätte man mit der Energie, mit dem Aufwand, mit dem Potenzial an richtig sinnvollen Dingen für die Menschheit tun können!

Okay, es ist mir nicht völlig entgangen, dass es zur Abwehr imperialistischer Angriffe schon einen Militärapparat, ein gewisses Abschreckungspotenzial, braucht. Ich weiß, dass man in dieser Welt nicht alles vernünftig und friedlich regeln kann. Leider. Das ist ein Fakt. Es gibt Konflikte, es gibt Konfrontation. Ohne Waffen ist man wehrlos. Ohne das Herz und die Fähigkeit, sie zu benutzen, auch.

Aber neben der ganzen Aufrüstung, neben diesem ganzen Konkurrenz-Ding, so sehr das auch vom Westen aufgezwungen war – das, was der Normalo von heute noch mit dem Ostblock und damit mit dem Realsozialismus, letztlich mit dem Kommunismus (so sehr ich das auch bestreiten möchte, das war definitiv kein Kommunismus!!!), verbindet, ist KGB, Willkür, Stalin, Repression und Misswirtschaft. Das ist einfach furchtbar!

Die Mauer, die Mauertoten – all das wird mit dem Begriff Kommunismus verbunden. Nur gut, dass Marx schon lange tot ist. Das hat er nicht verdient. Wären da Kommunisten am Werk gewesen, es hätte die Mauer, die Toten und auch diesen unwürdigen Zusammenbruch der Sowjetunion, den Ausverkauf der DDR nicht geben. Kommunisten überzeugen mit Argumenten, nicht mit Gewalt, nicht mit Zwang. Das ist Sache der Kapitalisten.

Nur sind die mit ihrer Gewalt und ihrem Zwang unendlich viel subtiler, als es die realsozialistischen Holzköpfe es sich haben träumen lassen.



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