Die Mär vom alten Rom

von Christoph Baumgarten

Kardinal Schönborn

Kardinal Schönborn (Bildquelle: Wikipedia)

WIEN. (hpd) Die katholische Kirche geht mit einer angeblichen weltweiten „Christenverfolgung“ hausieren. Zuletzt etwa Kardinal Christoph Schönborn aus Wien in seiner wöchentlichen Kolumne im Gratisblatt „heute“. Begleitet wird das traditionell von entsprechendem politischen Engagement konservativer und rechtspopulistischer Parteien. Was dahintersteckt, analysiert hpd-Korrespondent Christoph Baumgarten.

Christenverfolgung 2011. Ein lakonisch wirkender und hoch emotionalisierender Titel für eine Zeitungskolumne. Man denkt unwillkürlich sofort an den römischen Kaiser Nero, wie er im einstigen Hollywood-Blockbuster „Quo Vadis“ dargestellt wurde, an menschliche Fackeln an Kreuzen, an Menschen, die wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen werden. Besonders gut wirkt das in den Ländern, in denen kleine Kinder diese zum Teil heillos übertriebenen Geschichten im konfessionellen Religionsunterricht gehört haben. Legendenbildung von Amts wegen. In Gesellschaften mit christlicher Bevölkerungsmehrheit bedarf es des einen Wortes, „Christenverfolgung“, um all das hochkommen zu lassen.

Ein Eindruck, den Christoph Schönborn in seiner dieswöchigen Kolumne im österreichischen Gratisblatt „heute“ bewusst erzeugt, immerhin in einer der auflagenstärksten Tageszeitungen des Landes. Das unangenehme Grundgefühl bestärkt er mit Halbwahrheiten und deutlichen Formulierungen. Von „grausamer Unterdrückung, Inhaftierung oder Ermordung von Christen, vorwiegend in islamischen Ländern“ ist da die Rede. Gefolgt vom Schlüsselsatz im Mythos moderner Christenverfolgung. „Christen sind heute die am meisten verfolgte religiöse Minderheit auf der Welt“. Nicht, dass das nicht alles stimmen würde. Nur, um zu Wahrheit zu werden, braucht Wirklichkeit immer auch einen Zusammenhang. Dass die Anhänger der mit Abstand größten Religionsfamilie der Welt auch in absoluten Zahlen am häufigsten Opfer von religiöser Verfolgung betroffen sind, sollte wenig überraschen. Demokratie und Menschenrechte haben sich auf dieser Welt nicht überall durchgesetzt. Teilweise dank der so verfolgten Religionsfamilie.

Religiöse und weltanschauliche Diskriminierung gehören für Milliarden Menschen zum Alltag. Es trifft in Asien und Afrika alle Gruppen – je nach ideologischer Grundausrichtung der jeweiligen Bevölkerungsmehrheit. In Indien werden regelmäßig Muslime massakriert und Moscheen verbrannt. Den Sikhs geht es nicht viel besser. Die indische Regierung tut nicht genug, um dieser Verfolgung Einhalt zu gebieten. In Nigeria trifft es vorwiegend Christen. Während die wiederum in den Regionen, in denen sie die Bevölkerungsmehrheit stellen, fallweise Anhänger der animistischen Urreligionen verfolgen. Oder auf Hexenjagd gehen. Im Kongo kämpft die „Lords Resistance Army“ unter dem Kommando von Joseph Kony für einen christlichen Gottesstaat auf Basis der zehn Gebote und geht brutal gegen Andersdenkende vor. Sie wurde als „die brutalste Rebellengruppe der Welt“ bezeichnet. In Afghanistan, Saudi Arabien und Pakistan werden nicht nur christliche Konvertiten und Missionare verfolgt. Auch Atheisten werden mit dem Tod bedroht. Die Liste könnte man beliebig lange fortsetzen.

Und fallweise wird die religiöse Verfolgung von Christen stark übertrieben dargestellt. In Ägypten etwa ist ein Gutteil der angeblichen Verfolgung der Kopten kaum etwas anders als gewaltsam ausgetragene Clan-Rivalitäten, die mit Religion bestenfalls entfernt etwas zu tun haben. Sofern einer der Clans koptisch ist, schreit die Welt sofort „Christenverfolgung.“ Im Sudan sind es Jahrhunderte alte Auseinandersetzungen zwischen (muslimischen) Beduinen und (christlichen) Landwirten, die viele westliche Beobachter das gleiche mythisch aufgeladene Wort in den Mund nehmen lassen. Mit der Wahrheit hat das wenig zu tun. Und zieht man das Selbstbild eines Kardinals heran, woran sollte ihm mehr liegen als an der Wahrheit?

Jenen, die das Wort „Christenverfolgung“ in den Mund nehmen, liegt mehr an einer Botschaft, die Schönborn in bemerkenswerter Klarheit anspricht. „Wie reagiert (…) ein zunehmend entchristlichtes Europa auf diese Nachrichten? (…) Als Christen dürfen wir nicht schweigen, wenn Christen in anderen Ländern verfolgt werden.“ Die Mär vom alten Rom, das anderswo fröhliche Urständ‘ feiert, wird mit diesen Worten Vehikel für einen weiteren Mythos und handfeste politische Forderungen. Das eigentliche Ziel der Mythologisierung religiöser Verfolgung.

Da ist das „christliche Abendland“, das als Schutzherr der Christenheit auf der ganzen Welt zu fungieren hat. Und selbst von „Entchristlichung“ bedroht ist. Wenn man diese Prämissen akzeptiert, kann man nur folgern: Europa muss wieder „christlicher“ werden um der modernen „Christenverfolgung“ Einhalt zu gebieten – oder wenigsten den angeblich verfolgten Christen Schutz und Zuflucht. Die Botschaft richtet sich nicht an die diktatorischen Regime, die Verfolgung aktiv betreiben oder offen dulden oder an schwache demokratische Regierungen wie in Indien, die zu wenig dagegen unternehmen. Die Botschaft richtet sich ans demokratische Europa. Werdet religiöser“! Nicht nur als Individuen sondern vor allem als Gesellschaft. Eine gefährliche Forderung. So lange ist es nicht her, dass einander Anhänger verschiedener christliche Fraktionen in Nordirland einen Bürgerkrieg geliefert haben. So lange ist der jugoslawische Bürgerkrieg nicht her, der ohne religiös definierte Identitäten nicht erklärbar wäre.

Und eine stark diskriminierende Forderung. Warum soll ein religiös verfolgter Christ aus Nigeria mehr Schutz aus Europa bekommen als ein religiös verfolgter Muslim aus Indien oder ein aus religiösen Motiven verfolgter Atheist aus Pakistan? Alle drei werden aus religiösen Gründen verfolgt. Alle drei verdienen den gleichen Schutz. Wer besonderen Schutz für eine dieser Gruppen fordert, sagt, dass die anderen nicht das gleiche Anrecht auf Schutz haben. Das tun Schönborn und alle anderen, die von „Christenverfolgung“ reden. Ist das christliche „Nächstenliebe“? Den anderen, der eine andere oder keine Religion hat, im Regen stehen zu lassen?

Das wäre akzeptabel, wenn das nur eine Aufforderung an Christen wäre, ob es um Spenden geht, oder darum, Unterkünfte bereitzustellen. Andere Gruppierungen haben ähnliche Programme für tatsächlich oder vermeintlich Nahestehende. Nur reden sie nicht so viel darüber. Nicht akzeptabel ist es, wenn das eine Handlungsaufforderung an einen demokratischen Rechtsstaat ist. Holt vorwiegend religiös verfolgte Christen ins Land, um die anderen kümmert euch nachher. Das ist nicht nur undemokratisch und offen diskriminierend. Das ist auch in gewisser Weise Beihilfe zu religiöser Verfolgung. Durch Unterlassung. Wer einem Hilfesuchenden aus nichtigen Gründen nicht hilft, ist verantwortlich für das, was mit diesem Menschen passiert.

Menschen, die aus religiösen Gründen verfolgt werden, müssen alle in einem demokratischen Land den gleichen Anspruch auf Schutz und Zuflucht haben. Die demokratischen Länder dieser Welt sind ethisch wie gesetzlich verpflichtet, nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten allen Menschen Asyl zu gewähren, die verfolgt werden. Aus welchen Gründen auch immer. Und wer auch immer die Verfolgten sind. Ob Christen, Muslime, Buddhisten oder Atheisten. Und wenn man eine Wahl treffen muss, dann danach, wem es am schlimmsten geht. Und nicht danach, mit wessen Einstellung man sich – vielleicht – am ehesten identifizieren kann.

[Erstveröffentlichung: hpd]

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